Jules Jacquey (1852-1927) : Kann man dem Besatzer durch das Recht Widerstand leisten ?


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Als der Krieg ausbricht neigt sich die Karriere von Jules Jacquey seinem Ende zu. Seit er 1885 in Lille berufen wurde, nach seinen Erfolg bei der aggregation, arbeitete er dort sein Leben lang, einem Jahr. Diese Verankerung ist für einen Einheimischen aus einer anderen Region, in diesem Fall der Haute-Saône, eher selten. Zweifellos ist darin der Einfluss seiner Ehe zu sehen, die 1885 in Bergues gefeiert wurde, da die Braut aus einer in Flandern verwurzelten Familie stammt.

In diesem Spätsommer 1914, von den Gerüchten der Barbarei erschrocken, die von den aus Belgien kommenden Flüchtlingen verbreitet wurden, wählen Zahlreiche Juristen – Richter, Anwälte und Professoren – den Weg des Exodus. Im Oktober blieben nur vier der sechzehn Lehrer der juristischen Fakultät in Lille oder kehrten nach Lille zurück : Paul Collinet, Charles Mouchet, Louis Vallas und Jules Jacquey. Ihr Mut ist unbestreitbar.

Tatsächlich erklärt sich Lille am 24. August 1914 zum offenen Stadt. Sie wird in Eile evakuiert ab dem 2. September von feindlichen Truppen besetzt. Sie sind auf dem Weg nach Paris und haben keine Intention, sich in der Stadt dauerhaft aufzuhalten. Doch ruiniert die Schlacht an der Marne ihr Vorhaben. Auf ihren Rückzug folgt eine Reihe von Versuchen, den Gegner zu umgehen, der die kriegführenden Armeen zu den belgischen Stränden führt. Lille liegt auf dem Weg zu diesem „Wettlauf zum Meer“ und in den ersten Oktobertagen werden die Stadt und ihre Vororte die Schauplätze heftiger Kämpfe. Heftige Bombardierungen zerstören zweitausend Gebäude und das Stadtzentrum gerät in Flammen. Es gibt 200 Tote und 300 Verletzte unter der Bevölkerung. Die französische Garnison ergibt sich am Abend des 12. Oktober. Am nächsten Tag nimmt die 6. Bayerische Armee offiziell die Stadt in Besitz. Der General von Wahnschaffe gibt den Bewohnern eine beruhigende Erklärung : Die deutsche Armee kämpft nur gegen die französischen, britischen und belgischen Armeen, die Bevölkerung hat nichts zu befürchten, wenn sie von feindseligen Handlungen gegen sie absieht. Niemand ahnt, dass sich ein besonders strenges Besatzungsregime dabei ist sich für vier Jahre zu etablieren. Von Anfang an verlangt der Besatzer vom Bürgermeister einen Kriegsbeitrag von siebeneinhalb Millionen Franken. Der Bürgermeister von Lille, Charles Delesalle, der Präfekt, Félix Trépont, der Bischof von Lille, sowie Stadträte werden als Geiseln genommen und in die Zitadelle gebracht, um durch ihr Leben die Sicherheit der Besatzungstruppen zu gewährleisten. In den darauffolgenden Wochen folgten die verbindlichen Verordnungen (Einführung der deutschen Uhrzeit, Verpflichtung der Taubenzüchter, die Tauben zu töten, Schließung der Cafés um 22 Uhr, Reisebeschränkung durch die Einführung von Pässen und Ausgangssperren), zu denen neue Geldforderungen hinzukommen. Diese Forderungen sind derart hoch, dass nach vierzehn Tagen, die Gemeinde durch das Ausmaß der Anforderungen der Besatzer überwältigt ist. Der Bürgermeister von Lille beschließt, die juristischen Expertise von zwei Professoren des Völkerrechts hinzuziehen : Louis Selosse, Professor an der katholischen Fakultät, Rechtsanwalt an der Anwaltskammer von Lille und ehemaliger Präsident der Anwaltskammer, und Jules Jacquey, Professor an der staatlichen Fakultät. Im Geheimen schickt er ihnen am 2. November 1914 einen Brief, in dem er sie um Hilfe bietet. So drückt er sich im Brief, den Louis Selosse empfängt, aus  :

„Die Stadtverwaltung ist Gegenstand täglicher und mannigfaltiger Forderungen der deutschen Behörde, auf deren Rechtmäßigkeit und ggf. Unrechtmäßigkeit sie erinnert werden müsste, um, wenn nötig, dem Gewalt das Recht entgegensetzen zu können.

Sie dachte, das bessere Vorgehen, um sich über den Wert der genannten Anforderungen zu informieren, wäre, sich an besonders kompetente Personen zu wenden. Deshalb wendet sie sich an Sie, wie sie sich an Ihren Kollegen an der Staatsuniversität wendet, um Sie zu bitten, ihr Ihre Hilfe zu gewähren, indem Sie so oft wie möglich zum Rathaus kommen, wo die Fragen, die sich täglich stellen, Ihrer Prüfung vorgelegt werden.“

Ein paar Wochen später drückt der Präfekt des Nordens auch das Bedürfnis nach einer fachlichen Aufklärung aus, bittet jedoch nur den Professor an der staatlichen Fakultät, Jacquey.

Die Protokolle der Konsultation, die Jacquey dem Präfekten gibt, werden im Archiv des Departements Nord aufbewahrt. Einige sind maschinengeschrieben, fast alle sind handschriftlich und haben eine kleine, ordentliche Handschrift. Die Hälfte davon ist datiert, die anderen lassen sich unter Bezugnahme auf die von der deutschen Behörde öffentlich gestellten Anträge zeitlich einordnen. Die behandelten Fragen reichen von 1915 bis September 1918 und zeugen von einer kontinuierlichen Zusammenarbeit mit der französischen Verwaltung während des gesamten Konflikts. Die Größe der Beiträge variiert von wenigen Seiten bis zu mehreren Dutzend.

Die konsultationen, die dem Bürgermeister von Lille von Selosse und Jacquey, wurden in seinen papieren, nach seinem tod im jahre 1925 gefunden und von den Anwälten von Lille, im jahr 1927, zu Ehren des ehemaligen Präsidents der Anwaltskammer, veröffentlicht. Jacquey sollte das Vorwort schreiben, aber er stirbt am 12. März 1927, bevor er dazu kommen kann. Die an den Bürgermeister von Lille gerichteten Konsultationen unterscheiden sich von denen, die für den Präfekten verfasst wurden. Die ersten Kosultationen, die hauptsächlich von Selosse verfasst sind, tragen als Titel die vom Bürgermeister gestellten Frage, während die zweiten, die von Jacquey stammen, mit Überschriften versehen sind, die an denen der in den juristischen Zeitschriften veröffentlichten Artikel oder der Formulierung von Prüfungsgegenständen erinnern. im Einklang mit einem sehr akademischen Ansatz für die untersuchten Fragen, sowohl durch die Struktur der Präsentation als auch durch die genauen Verweise auf übereinstimmende oder abweichende Analysen der Lehre. Einige Titel von Konsultationsberichte, die zu verschiedenen Zeitpunkten des Konflikts verfasst wurden, ermöglichen es, die Vielfalt der von der Rechtsberatung behandelten Fragen zu beurteilen und zu bewerten  :

  • Über die deutschen Gräber (Dezember 1915),
  • Zur Situation der französischen Beamten gegenüber dem Besatzer in Bezug auf das Völkerrecht (Undatiert),
  • Ist die Tatsache, dass der Besatzer einen Teil der Bevölkerung einer Stadt in ein abgelegenes Departement transportiert, um sie für landwirtschaftliche Arbeiten einzusetzen, mit dem Völkerrecht vereinbar  ? (Undatiert),
  • Über die Erhaltung des Eigentums und der Rechte der für den Dienst am Vaterland abwesenden Soldaten (Gesetz vom 6. März, Jahr V). Die Rolle der Gemeinde und der Staatsanwaltschaft (undatiert),
  • Auswirkungen der militärischen Besetzung eines Gebietes auf die Anwendung des Strafrechts (1917),
  • Zur Lage der Krankenschwestern des französischen Roten Kreuzes entweder gegenüber der Hilfsgesellschaft, der sie angehören, oder gegenüber dem deutschen Staat  (1917),
  • Zu den „Teuerungszulagen“ zugunsten der Staatsbeamten im Departement Nord (1918),
  • Über städtische Erlasse zur Beschlagnahme von Pferden oder Gemüse (einige Erwägungen sowohl über die Unverletzlichkeit des Eigentums an Möbeln im Hinblick auf die Verwaltung als auch über die Befugnisse und Handlungsmittel der Verwaltungsbehörden  (1918),
  • Zur Lage der klassifizierten Bediensteten der Compagnie de chemin de fer du Nord, die nach der Mobilmachung (1918) in Lille festgehalten wurden.
  • Wenn der Präfekt des Nordens und der Bürgermeister von Lille von den Einschätzungen erfahren hätten, die Jacquey in den Jahren vor dem Konflikt vom Dekan der Fakultät, Eustache Pilon, gemacht wurden, hätten sie ihn darum gebeten ? Während er seine Ernsthaftigkeit und sein berufliches Bewusstsein zugibt, notiert er 1911 und 1912 in seiner Karriereakte : „Herr Jacquey bringt in den Vorlesungen zum Völkerrechts, mit dem er beauftragt ist, nicht die Methode der Wissenschaft ein, die für diese Materie nur bei einer kleinen Anzahl von Spezialisten anzutreffen ist.“ Der Krieg bietet Jules Jacquey die Möglichkeit, aus der Theorie auszubrechen, um sich dem Völkerrecht als Praktiker zu nähern und in dieser Disziplin echtes Fachwissen zu erwerben.

    Während der gesamten Besatzungszeit arbeiteten Selosse und Jacquey, die damals jeweils an Fakultäten lehren, die zueinander in großer Rivalität stehen, gemeinsam an der ihnen anvertrauten patriotischen Mission, um den französischen Verwaltungsbehörden die rechtlichen Argumente des Völkerrechts zu liefern, die sie dann der Besatzungsbehörde entgegensetzten, um zu versuchen, ihre Forderungen zu begrenzen. Die beiden Männer, abgesehen davon, dass sie ungefähr im gleichen Alter sind, 60 und 62 Jahre alt, teilen auch die Sorge, einen Sohn an der Front zu haben : Weil sie sich in der besetzten Zone befinden, werden sie während des gesamten Konflikts keine Nachrichten von ihnen erhalten, weder gute noch schlechte. Sie wissen also nicht, dass die beiden Kämpfer sehr schnell ihr Leben verloren haben, im Abstand von zehn Tagen, beide in der Marne. Paul Jacquey verschwand bei den Kämpfen im Bois de la Gruerie am 24. September 1914 und Louis Selosse wurde am 3. Oktober 1914 in La Neuvillette bei Reims getötet. Jules Jacquey wird noch lange nichts vom Tod seines Sohnes erfahren. Sein Tod und das mutmaßliche Datum seines Todes werden erst am 20. Mai 1920 durch ein Urteil des Gerichts von Lille offiziell bestätigt.

    Man kann sich vorstellen, dass Jacquey nicht unbesorgt ist, als er auf die doppelte Aufforderung des Bürgermeisters und des Präfekten antwortet. Sich um den Verstand zu kümmern und für das Gemeinwohl zu arbeiten, können sehr wirksame Ablenkstrategien sein, und Jacquey scheut keine Mühe. Das Hochschuljahr, das trotz der schwierigen Umstände und der geringen Zahl von Studenten – anwesend sind nur vierzehn – aufrechterhalten wurde, veranlasst ihn, Veranstaltungen zu halten, die weit über seine Lehrpflichten hinausgehen. Die Beratungen, die er verfasst, kommen zu dieser Aktivität hinzu, so dass Jacquey wahrscheinlich keine Minute Zeit hat. Er entscheidet sich dennoch, das Dekanat anzunehmen, als Charles Mouchet nach Deutschland deportiert wird. Letzterer wird am Ende des Konflikts in seinem Bericht über die Aktivitäten der juristischen Fakultät, den er für das Jahr 1921-1922 vorlegt, gelobt : „Herr Jacquey, der im Frieden der Mann der Pflicht war, war es auch im Krieg. Nachdem er Anfang Oktober 1914 seinen Posten antritt, bleibt er dort bis zum Ende der deutschen Besatzung und gibt während der vier Jahre, die diese Besatzung dauert, das volle Maß seines Charakters ab. Trotz seiner recht schwachen Gesundheit verdreifachte er seine Verantwortungen in dem er weitere Vorlesungen annimmt, und erfüllt lächelnd, trotz schmerzhafter Ängste, die verschiedensten und schwersten Lasten. Seine ausführlichen völkerrechtlichen Beratungen wurden von der Verwaltungsbehörde in den Konflikten, die die deutsche Besatzung auslöste, genutzt.“

    In den ersten Monaten der Besatzung tragen die Rechtsberatungen von Jacquey und Selosse wirksam dazu bei, den Forderungen des Besatzers, der sich über die Rechtswissenschaft des Bürgermeisters wundert, Grenzen zu setzen : Ein Zeuge berichtet, dass die Vertreter der deutschen Autorität in Lille – der General von Heinrich und der General von Graevenitz – mehrmals ausgerufen hätten : „Ihr Bürgermeister ist ein universeller Mann !“ Sein Kenntnis des Völkerrechts ist beeindruckend !“ Die Besatzer geben sich Amüsiert um Gesicht zu wahren, in Wirklichkeit genervt, reagiert der Besatzer nicht immer mit Humor, der Ton kann auch beißend sein : Auf das Schreiben vom November 1914, in dem die Weigerung des Bürgermeisters zum Ausdruck gebracht wird, der deutschen Behörde von der Stadt bezahlte Arbeiter zur Verfügung zu stellen, antwortet der General von Heinrich persönlich und auf Französisch : „Ich bitte das Rathaus, sich in Zukunft jeglicher Kritik an solchen Entscheidungen zu enthalten. Sie könnten als Provokationen aufgefasst werden und als Antwort Bestrafungen für die Zukunft haben.“Trotz der Drohung, die hinter diesen Worten steht, ist die Reaktion des Unwillens, die sie offenbaren, nicht ohne den französischen Beamten zu gefallen, zumal sie sich in der Bevölkerung ausbreitet und ein wenig Balsam in die Herzen der Besetzten legt. Maria Degruytère schrieb im Juni 1915 in ihr Tagebuch : „Man will den Bürgermeister von Lille zwingen, für die Deutschen zu arbeiten, er schreibt einen schönen Brief, um abzulehnen.“ Darüber hinaus inspiriert und ermutigt der Ruf des juristischen Widerstands der Gemeinde Lille die Bürgermeister anderer Städte des Departements wie Fourmies und Cambrai, eine ähnliche Haltung einzunehmen, obwohl sie keine juristische Unterstützung erhalten.

    Es ist jedoch sehr gefährlich, dem Besatzer zu widerstehen. Charles Delesalle widersetzt sich ihm, wann immer er es für notwendig hält, und wird mehrmals in der Zitadelle interniert, bevor er mit anderen Geiseln in einem Konvois ins Lager Holzminden deportierten wird. Er wird dort vom 1. November 1916 bis zum 27. April 1917 interniert und kehrt sehr geschwächt zurück. Es besteht kein Zweifel, dass die Deutschen, wenn sie die Identität der Autoren der dem Bürgermeister und dem Präfekten gegebenen Konsultationen gewusst hätten, das gleiche Schicksal wie der Bürgermeister der Stadt erlitten hätten, denn auch ohne besonderen Grund bilden die Angehörigen der Rechtsberufe während des gesamten Konflikts ein privilegiertes Kontingent von Geiseln.

    Die Archive liefern uns zwanzig Konsultationen, die von Jacquey als Antwort auf die Fragen des Präfekten verfasst wurden, der aufgrund der militärischen Ereignisse seinen Auftrag unter normalen Bedingungen nicht mehr ausführen kann. Die Situation erweist sich als beispiellos : Einerseits ist die Kommunikation mit seiner Hierarchie unterbrochen, er muss allein die Entscheidungsfindung übernehmen, und andererseits muss er in Bezug auf den Besatzer stehen, mit dem sich ein Modus vivendi aufdrängt. Die französischen Behörden fürchten in der Tat sehr, dass sie am Ende der Besatzung beschuldigt werden, dem Besatzer gegenüber zu selbstgefällig gewesen zu sein oder sogar zusammengearbeitet zu haben. Diese Angst wird zur Psychose des Verbrechens des Verrats am Vaterland. Dieser Artikel, der durch Artikel 77 des Strafgesetzbuches unterdrückt wird, der die Erfahrung des Präzedenzfalls von 1870 berücksichtigt, setzt die Situation, in der den feindlichen Soldaten Hilfe geleistet wird, dem Verbrechen des Verrats gleich : d.h. Hilfeleistung in Form von Menschen, Waffen, Geld oder Lebensmitteln. 1914 ist unter der besetzten Bevölkerung die Angst, in die Lage versetzt zu sein, sein Vaterland zu verraten, sehr groß. Es ist daher verständlich, dass der Präfekt der Region Norden und der Bürgermeister von Lille derart darauf bedacht sind, dem Besatzer zu widerstehen, aber auch ihre Positionierung gegenüber diesem rechtlich zu rechtfertigen.

    Die Besatzung ist keine völlig unbekannte Situation für die Bevölkerung Nordfrankreichs, die über die Jahrhunderte mehrere Besatzung durch den unterschiedlichen Nachbarländer gekannt hat, unter anderem die preußische Besatzung von 1870, die in Lille als sehr schlechte Erfahrung in Erinnerung in der Bevölkerung geblieben ist. Aber 1914 fallen die Bedingungen, unter denen sie stattfinden soll, nicht mehr nur unter ein diesbezüglich unklares Menschenrecht, sondern unter Normen, die in Konventionen verankert sind, denen sich die Staaten bereits 1899 in Den Haag zu unterwerfen bereit erklärten. Diese Bestimmungen wurden in einem Abkommen von 1907 unverändert übernommen, daher genügt es, auf dieses Besatzungsrecht Bezug zu nehmen, um alle Fragen zu regeln, die sich täglich im Verhältnis zwischen Besatzer und Besetztem stellen können. Zumindest theoretisch, da dieses neue Besatzungsrecht bisher noch keine Anwendung gefunden hat, lässt es viel Raum für Interpretation, zumal in Den Haag die Diskussionen lebhaft sind, als die sensibelsten Paragraphen verfasst werden : die Artikel 42 und 43, in denen die Besatzung und die Pflichten des Besatzers festgelegt sind, 48 und 49 über die Kriegsbeiträge für die Bedürfnisse der Besatzungsarmee und der Verwaltung der besetzten Gebiete, 52 und 53 über die Anforderungen und Beschlagnahmungen. Dies erklärt, warum Jacquey und Selosse in ihren Konsultationen auf die Genese der von ihnen angeführten Artikel zurückkommen, die auf die Debatten eingehen, die auf der Brüsseler Konferenz von 1874 aufgeworfen wurden, insbesondere bezüglich der Position der deutschen Delegierten. Die damals geäußerten Vorbehalte der Besatzer spiegeln sich ihrer Meinung nach in den Forderungen des Besatzers wider, insbesondere in der allgemeinen Vorstellung, dass die Erfordernisse des Krieges die Missachtung des Rechtrahmens rechtfertigen.

    Die Konsultation „Über die deutsche Verordnung vom 16. Juli 1916 über die Hinterlegung und Beschlagnahme von Haushalts- und anderen Gegenständen aus Kupfer, Zinn, Nickel usw.“ gibt uns viele Hinweise darüber wie Jacquey die Probleme der Besatzung sieht. Auf 44 Seiten antwortet er, dass drei Gesichtspunkte zu berücksichtigen sind : Erstens die Frage des Gewissens, der Moral und des Naturrechts, zweitens die des Völkerrechts und drittens die des Patriotismus, wobei letzterer Punkt auf 18 Seiten entwickelt wird, weshalb wir hier näher darauf eingehen werden. Wenn Jacquey zufolge der Präfekt, in Anwendung des Völkerrechts, sich der deutschen Forderungen widersetzen kann, ist er jedoch der Ansicht, dass die Frage auf einem anderen Terrain, nämlich dem des Patriotismus, zu behandeln ist : „Das ist die einzige Frage, und die ganze Frage… wird die Meldung des Kupfers den Interessen unseres Vaterlandes nützen oder schaden, wird sie dazu führen, den Interessen Frankreichs zu dienen oder denen hinderlich sein ?“ Jacquey zieht einen langen Vergleich der Vor- und Nachteile der Kooperation und der Verweigerung der Meldung von Kupfergegenständen und -beständen, um zu dem Schluss zu kommen, dass es aus pragmatischer Sicht besser ist, sie zu deklarieren, weil die Deklaration dank der Möglichkeit von Auslassungen die Lieferung von Metallen wird einschränken können, von denen sicher ist, dass sie zur Herstellung von Granaten verwendet werden, die dazu bestimmt sind, französische Soldaten zu töten. Doch fällt diese Haltung unter Artikel 77 des Strafgesetzbuches ? Nach Jacqueys Ansicht ist es nicht der Fall, weil dieser Artikel die Lieferung von Waffen an den Feind und die Lieferung von Nahrungsmitteln auf die gleiche Linie stellt, zu der die Besetzten gezwungen werden, indem sie Kriegsbeiträge für den Unterhalt der Besatzertruppen zahlen. Es gebe keinen Platz für einen Patriotismus der Worte, der Sentimentalität : „Die Zeit des Krieges ist keine Zeit, in der man sich ohne Gefahr von Worten überzeugen, von Gefühlen leiten lassen kann oder zumindest nur von Gefühlen… Um zu siegen, genügt es nicht, die Herzen zu entflammen und dem Besatzer passiven Widerstand entgegenzusetzen. Wie Feuer und Sturm, fügt er hinzu, sei der Krieg eine Kraft, der man nicht widerstehen könne, außer in gewissem Maße und mit den geeigneten Mitteln, wenn man genau erwägt was zu halten und zu opfern sei. „Der beste Patriotismus ist der praktische Patriotismus, der sich darum kümmert, dem Vaterland nützliche Ergebnisse zu bringen.“ Schließlich forderte er den Präfekten auf, sich die Meldung der Metalle nicht zu widersetzen.

    Ist diese Schlussfolgerung seitens eines Juristen, der unter Bezugnahme auf das Völkerrecht beraten soll, nicht ein wenig überraschend ? Eine bejahende Antwort würde den Kontext verfehlen. In den ersten Monaten lässt sich mit Bezugnahme auf das Recht der Besatzer in seiner Forderungen noch Bremsen. So forderten die deutschen Behörden im Juni 1915 die Industriellen von Lille dazu auf, Sandsäcke herzustellen. In der Annahme, dass diese Säcke für deutsche Schützengräben bestimmt sind, stoppen diese ihre Fabriken als Zeichen der Ablehnung. Sie werden dann einberufen, aufgefordert, die Liste ihrer Arbeiterinnen zu geben, und der (deutschen) Gouverneur von Lille verlangt dann vom Bürgermeister, dass er bei der Bevölkerung interveniert, damit die Bevölkerung akzeptiert, die Säcke zu Hause herzustellen. Der Bürgermeister bittet die beiden Juristen um Hilfe, weil er befürchtet, dass die Sackherstellung zu den deutschen Kriegsanstrengungen beitragen könnte. Vier Tage später verfasst Jacquey eine 11-seitige Antwort, die von Selosse mitunterzeichnet wird. In drei Teilen und mit präzisen Verweisen auf Texte und Doktrin, liefert der Konsulationsbericht dem Bürgermeister die stichhaltige Argumentation, die ihn berechtigt, sich der deutschen Forderung zu widersetzen. In Roubaix stößt der Besatzer auf dieselbe Ablehnung. Als Sanktion wird den Industriellen der Stadt und der Bürgermeister, Eugène Motte, gefangen und in Deutschland interniert. Eugène Motte hatte sich mit Bezug auf die Rechtslage geweigert, allerdings ohne eine genaue Argumentation vorzubringen.

    Im Jahr 1916 ist der Konflikt ein totaler Krieg geworden, ohne Begrenzung der Mittel, um ihn zu gewinnen. Deutschland hat erhebliche Schwierigkeiten, sich mit Waffen zu versorgen und seine Bevölkerung zu ernähren. Das liegt an der Blockade der alliierten, die trotz intensivem Einsatz von U-Boote nicht zu brechen ist. Die Blockade, die vor dem Krieg rechtlich umstritten war, ist trotzdem legal ; da Großbritannien sich immer dagegen gewehrt hatte, dieses Druckmittel zu verbieten, wurde es nie verboten. Da der Besatzer keine andere Wahl hat, entnimmt er der Bevölkerung der besetzten Gebiete das, was er nicht anderweitig beziehen kann. Die materielle Lage der Besetzten verschlechtert sich dadurch, und es ist nicht verwunderlich, daß eine gewisse Skepsis Jacquey veranlaßt, anderswo als im Recht die Lösung des ihr unterworfenen Problems zu suchen.

    Wenn Jacquey Hoffnungen auf die Fähigkeit des Völkerrechts hatte, den Krieg einzudämmen, scheint er sie 1916 verloren zu haben. Auch Selosse teilt diese Skepsis. Er drückte dies in einer an den Bürgermeister gerichteten Konsultation im Januar 1917 über die Argumente aus, die er gerade entwickelt hatte : „Werden sie die Vertreter der Militärbehörde  überzeugen ? Das möchte ich doch bezweifeln. Das Völkerrecht bleibt gewissermaßen etwas nebelig, und Sie wissen auch, wie schwierig es ist, die angeblichen Rechte der Besatzer zu berühren und nicht jedes Mal deren Empfindlichkeiten zu wecken, wenn man scheint, über Vorrechte zu diskutieren, über die nur er entscheiden zu können glaubt.“ Im vorliegenden Fall rät er dem Bürgermeister, sich auf das deutsche Zivilrecht zu beziehen, „weil man auf diesem Gebiet hoffen kann, ihn zwar nicht zu überzeugen, aber ihn zumindest in Verlegenheit zu bringen und Zeit zu sparen, indem man ihn mit Texten konfrontiert, deren Rechtmäßigkeit er nicht bestreiten kann, da sie aus seiner eigenen Gesetzgebung stammen“. Desillusioniert beraten Jacquey und Selosse den Präfekten und den Bürgermeister bis zur Befreiung der Stadt am 17. Oktober 1918 vielmehr mit Weisheit und Pragmatismus denn mit dem Recht.

    Annie Deperchin, Associate Researcher Zentrum für Rechtsgeschichte (UMR 8025), Universität Lille, Internationales Forschungszentrum des Ersten Weltkriegs


    Literaturangaben

    Audoin-Rouzeau Stéphane, Asséo Henriette (dir.), La violence de guerre 1914-1945 : approches comparées des deux conflits mondiaux, «  Collection “Histoire du temps présent”  », Bruxelles, Belgique, Editions Complexe, 2002.

    Condette Jean-François, «  Étudier et enseigner dans les facultés et les lycées lillois sous l’occupation allemande (1914-1918)  », dans Revue du Nord, vol. 404‑405, no 1, 2014, p. 207‑239.

    Dormard Serge, «  L’enseignement juridique et le corps professoral de la faculté de droit de Lille, du Second Empire à la première guerre mondiale  », dans Revue du Nord, vol. 384, no 1, 2010, p. 127‑167.

    Horne John N. (dir.), Vers la guerre totale : le tournant de 1914-1915, Tallandier, Paris, France, 2010.

    Selosse Louis, Guerre de 1914-1918. Occupation de Lille par les Allemands. Consultations données à la mairie de Lille par Louis Selosse, ancien bâtonnier de l’Ordre des avocats de Lille, doyen et professeur de droit international à la faculté libre de droit de Lille, avec le concours de M. Jacquey. Doyen honoraire et professeur de droit international à la faculté d’État de Lille, Paris, France, Recueil Sirey, 1927.

    Vandenbussche Robert, «  Lille dans la main allemande  », dans Cahiers Bruxellois-Brusselse Cahiers, vol. XLVI, no 1F, 2014, p. 109‑123.