Die juristische Fakultäten von Toulouse und Paris : Zwischen Konkurrenz und gemeinsame Schicksal


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Paris und Toulouse sind die beiden größten juristischen Fakultäten Frankreichs. Über das ganze 19. Jahrhundert sind diese maßgebend für die akademische Landschaft Frankreichs, insbesondere in Hinsicht auf ihre Attraktivität, auf die Studentenanzahl sowie die Anzahl an verliehenen Diplomen. Zusammen mit den anderen von Napoleon gegründeten juristischen Fakultäten (insgesamt ein Dutzend im Inland), teilen Sie den gleichen Ziel der Professionalisierung : Durch die Organisierung von Prüfungen sollen sie die notwendigen Titel für den Zugang zu den juristischen und juristischen Berufen (Richter, Anwälte, Lehrer usw.) unter den Kinder der privilegierten Klassen zugeteilt werden. In allen Fakultäten wird der schwerpunkt auf die Lehre von Zivilrecht, römisches Recht und Verfahrensrecht gelegt. Andere Rechtszweige werden in diesem Rahmen kaum oder nur selten (Verwaltungsrecht, Handelsrecht oder Rechtsgeschichte) gelehrt. Zeitzeugen, unter anderem berühmten Schriftstellern (Balzac, Zola und andere), übten bisweilen scharfe Kritik an den pädagogischen Methoden am Inhalt des Unterrichts. Nicht selten dominieren auf den Bänken der Fakultät Langeweile, Routine und Konformismus. Dieses düstere Bild ohne Nuancen zu kolportieren wäre jedoch nicht gerecht. Sowohl die Qualität der juristischen Ausbildung, die Stringenz des Lehrkörpers (die bei einigen Professoren die Originalität und den Sinn für Innovation nicht ausschließt) sind damals durchaus breit anerkannt. Hinzu kommt soziale Verwertbarkeit einer Disziplin, die, so oberflächlich es auch in seiner Weitergabe mitunter sein mag, einen gemeinsamen kulturellen Wissensbasis der herrschenden Eliten darstellt.

Erst in den 1860er Jahren setzt sich ein gewisser intellektueller und wissenschaftlicher Ehrgeiz an den juristischen Fakultäten durch. In der Dritten Republik vollzieht sich ein deutlicher Wandel. Reformen zur Anpassung des Bildungsangebots an die Herausforderungen der Zeit werden unternommen. Erstens muss die Konkurrenz privater Institutionen begegnet werden, zweitens soll den angehenden Beamten öffentlichen Dienst einen angemessen Ausbildung angeboten werden. Nicht zuletzt sollen mit der Reform die wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen der französischen Gesellschaft Rechnung getragen werden. Diese Modernisierung drückt sich in den Lehrprogrammen durch neue Disziplinen aus (insb. politische Ökonomie, Verfassungsrecht, öffentliche Finanzen, Kolonialrecht usw.) ; die motiviertesten unter den angehenden Juristen haben die Möglichkeit, entweder in Rechtswissenschaften (doctorat ès sciences juridiques) oder in Politik- und Wirtschaftswissenschaften (doctorat ès sciences politiques et économiques) zu promovieren. Allmählich öffnen sich die Fakultäten auch für etwas weniger wohlhabende soziale Klassen. Dennoch schließen die hohen Kosten des Studiums weiterhin (und das für lange noch) Studenten und Studentinnen aus Arbeitermilieu aus. Die Belle Époque wird oft als das „goldene Zeitalter“ der juristischen Fakultäten bezeichnet. Ihre hegemoniale Position in der höheren Bildung der französischen Eliten, wenn auch nicht unumstritten, bleibt bestehen (man spricht damals sogar von einer „Republik der Juristen“). Sie tragen voll und ganz zu den Debatten um die Entstehung der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften (Léon Duguit und einige andere wollen sie sogar als „sozialwissenschaftliche Fakultäten“ anerkennen lassen) sowie an der Verbreitung des republikanischen Katechismus bei. Die politische und soziale Expertise der Rechtsprofessoren genießt damals Anerkennung und Würdigung. Es wundert daher nicht, dass die Vorbilder der französischen Rechtswissenschaft (von Hauriou bis Duguit, über Esmein, Gény, Saleilles, Thaller, Planiol usw.) großenteils zu dieser Zeit gehören. Die Fakultäten von Paris und Toulouse, beide wichtige Akteure der nationalen Geschichte der Universitäten, durchlaufen zu dieser Zeit jeweils unterschiedliche Entwicklungen. Während die erste den akademischen Raum unverschämt dominiert, nutzt die zweite ihre Stärken, um sich einen beneidenswerten Ruf und eine respektierte Position in den Kreisen der Rechtswissenschaft aufzubauen.

Hierarchien

Die von der republikanischen Regierung eingeleitete Universitätsreform versucht, die hyperzentralisierte Organisation des französischen Systems wieder ins Gleichgewicht zu bringen und den wissenschaftlichen Geist der akademischen Institutionen zu entwickeln. Die Fehler des napoleonischen akademischen Modells sind inzwischen deutlich geworden, und man geht so weit, ihm die Gründe für die Niederlage von 1870 zuzuschreiben.  Die Dritte Republik bemüht sich, eine Reformbewegung in Gang zu setzen, indem sie die Zahl der Professoren erhöht, die Gründung neuer Fakultäten (Bordeaux, Montpellier oder Lyon) fortsetzt, die bestehenden erweitert, ihre finanziellen Mittel stärkt oder ihre Verwaltung modernisiert (vgl. Universitätsgesetz von 1896). Insbesondere durch die Wiederbelebung bestimmter Provinzpole hat die Politik der Dezentralisierung zu bestimmten Ergebnissen geführt, ohne jedoch an die Vorherrschaft von Paris zu rütteln. Denn diese ist im Grunde genommen dem System des Hexagons inhärent. Um nur ein Beispiel zu nennen : 43  % aller Studenten (alle Fakultäten zusammen) sich 1914 in Paris immatrikuliert. Obwohl Toulouse seinen Status als zweitgrößte juristische Fakultät Frankreichs behält, liegt sie noch weit hinter ihrem Vorgänger. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs zählt die Pariser Fakultät etwa vierzig Professoren, während es in Toulouse lediglich zwanzig sind. Erstere beansprucht gleichzeitig mehr als 7500 Studenten (d.H. knapp die Hälfte der Jurastudenten Frankreichs), während die zweite etwas mehr als tausend Studenten hat.

Die wirtschaftliche und politische Dominanz der Hauptstadt drückt sich direkt in der akademischen Produktion aus. Das Studieren an einer Hochschule ist ein Luxus und eine soziale Distinktion (in der Zwischenkriegszeit studieren immer noch weniger als 3 % der Altersgruppe 19-22 Jahre). Für die Familien ist Studieren sehr teuer, umso mehr, wenn die Universität fern liegt und der Student in eine andere Stadt umziehen muss . Davon abgesehen bietet der juristische Studiengang den Vorteil, nicht sehr selektiv zu sein was die Schulkompetenzen angeht, und zugleich den Kindern der oberen Klassen viele Perspektiven zu bieten (die meisten der von ihnen geschätzten Berufe sind mit einem juristischen Abschluss zugänglich). Wenngleich dieser Faktor sozialer Selektion ein zentrales und allgemeines Merkmal des Jurastudiums ist, ist er von Fakultät zu Fakultät unterschiedlich ausgeprägt. Im Toulouse des neunzehnten Jahrhunderts waren es im Wesentlichen die Söhne der Grundbesitzer (die lange die Mehrheit ausmachen) und der Handels- und liberalen Bourgeoisie, die an der juristischen Fakultät studieren. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs hat sich dies spürbar verändert : Die Söhne der liberalen Bourgeoisie setzen sich schließlich mehrheitlich auf den Bänken der Fakultät durch. Diese Studenten repräsentieren also eine gewisse lokale Elite, aber nicht unbedingt die größten und reichsten Familien, die eine führende politische und soziale Rolle spielen. Soweit uns die verfügbaren Daten es nachverfolgen lassen, scheinen die Söhne der Toulouser Elite die juristische Ausbildung nicht als attraktiv anzusehen. Umgekehrt ist die Pariser Studentenschaft insgesamt kontrastreicher und variierter (ohne jedoch im geringsten aus dem Volksmilieu zu stammen),jedoch konzentriert sie die sehr wohlhabenden und einflussreichen Bevölkerungskategorien. Dort bereiten sich die Söhne der „Eliten der Republik“, die über umfangreiche soziale Netzwerke, politische Unterstützung und über ein beträchtliches wirtschaftliches Kapital verfügen, darauf vor, in den höheren öffentlichen Dienst einzusteigen, eine große Karriere als Wirtschaftsanwalt zu beginnen oder träumen von einer nationalen politischen Karriere. Die existierenden Untersuchungen zu den Studienwegen und rechtlichen Möglichkeiten in der Dritten Republik sind lückenhaft. Es zeichnen sich jedoch einige Tendenzen ab : Die Fakultät von Toulouse nährt vor allem die Justiz und die lokalen Verwaltungen, während die Pariser Fakultät auch die hohe Staatsverwaltung nährt, die politischen Kreise unterhält und die Geschäftselite bildet.

Diese Pariser Vorherrschaft zeigt sich auch im Lehrkörper selbst. Der Historiker Christophe Charle hat gezeigt, dass der Beruf des Rechtsprofessors im ganzen Land oft ein Förderweg für die Mittelschichten der Bourgeoisie ist, der für diejenigen zugänglich ist, denen die prestigeträchtigsten Fächer verschlossen bleiben. In vielerlei Hinsicht bietet die Aggregation in Fach Rechts (Zulassungsprüfung zur Lehre des Rechts) intellektuell begabten Menschen meritokratische Perspektiven, die egalitärer sind als andere Wettbewerbe. Zukünftige Lehrer werden während ihrer Ausbildung oft mit hervorragenden Ergebnissen und Preisen belohnt. Die Einführung eines nationalen Aggregation-Wettbewerbs im Jahr 1896, der eine bessere Qualität und Homogenität des Lehrkörpers gewährleisten sollte, vergrößert letztendlich die Lücke zwischen Paris und der Provinz. Die jungen Doktoren der Rechtswissenschaften (aus ganz Frankreich), die diesen Wettbewerb in der Hauptstadt bei den Pariser Professoren vorbereiten, maximieren ihre Erfolgschancen. In den ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts stammen 60  % der AbsolventInnen in Fach Rechtsgeschichte und mehr als 55  % der AbsolventInnen im Privatrecht aus der Pariser Akademie. Viele kommen daher aus der Provinz nach Paris, um eine strenge Vorbereitung auf den Wettbewerb zu suchen und sich mit den zukünftigen Professoren der Jury zu treffen (letztere wird auch hier von den Parisern dominiert). In der Regel lehren die jungen Professoren in den ersten Jahren ihrer Karriere in den Fakultäten der Provinz, doch gibt es unter Ihnen viele Kandidaten für eine Rückkehr nach Paris. Diese Rückkehr gilt im akademischen Milieu als Zeichen von Exzellenz und Erfolg. Über den Zugang zu den Pariser Lehrstühlen besteht harte Konkurrenz (dies gilt umso mehr in der Medizin oder in der Literaturwissenschaften), und er tritt über die Zeit immer später im Laufbahn ein (zwischen 40 und 45 Jahren). Diesbezüglich sei darauf hingewiesen, dass Toulouse die Pariser Attraktivität besser standgehalten hat als andere Fakultäten. Wir werden noch darauf zurückkommen. In jedem Fall genießen die Pariser Professoren mehrere Vorteile : privilegierten Zugang zu renommierten Wissenseinrichtungen (viele von Ihnen etwa sind Mitglieder der Akademie der Moral- und Politikwissenschaften), Nähe zu den hierarchischen Elite des Rechts (an erster Stelle den Mitgliedern des Kassationsgericht), Ergänzung der Lehre durch lukrative Aktivitäten (symbolisch und finanziell) : private Konsultationen, Beratung oder auch das Bekleiden politisch-administrativer Ämter. Durch die auch räumliche Nähe zum mächtigen Sektors des juristischen Verlagswesens, nehmen Sie viel häufiger als ihre Provinzkollegen an Editionsprojekten teil und gewinnen dank dieser wissenschaftlichen Sichbarkeit an Autorität in den Lehrdebatten. Die Mehrheit der Fachzeitschriften oder subdisziplinären Zeitschriften werden in der Tat von Pariser Juristen gegründet (auch einige Toulouser sind in den Redaktionen präsent). Unter den „doktrinellen“ Zeitschriften, wie man sie nennt, die damals erscheinen, sind nur bei wenigen die Redaktionen mehrheitlich “provinziell” besetzt (in Toulouse werden die »Recueil de Législation de Toulouse« (Sammlung der Gesetzgebung von Toulouse) und später der »Revue de droit rural et d’économie agricole« (Zeitschrift für ländliches Recht und Agrarökonomie) herausgegeben). Nicht zuletzt öffnen Pariser Posten auch attraktive Perspektiven wie politische Karrieren auf nationaler Ebene oder die Ausübung von Expertenfunktionen (Streitbeilegungsausschuss, höhere Räte, Beiräte usw.). So zählt die Pariser Fakultät in der Dritten Republik sieben Abgeordnete und zwei Minister in ihren eigenen Reihen. Paris oder die französische Wüste ? So oder ähnlich lautet damals die Frage.

Konkurrenz unter Fakultäten

Anders jedoch als die natur- und literaturwissenschaftlichen Fakultäten der Provinz, die völlig von der Hauptstadt im Schatten gestellt sind, genießen die juristischen Fakultäten der Provinz eine gewisse Attraktivität und ein aktives akademisches Leben. Die Entscheidung für eine Karriere in der Provinz ist für Professoren meist keine Zweitrangige Wahl sondern eine Karrierestrategie, welche diejenigen vorziehen, die die lokale Verwurzelung vor dem Pariser Ruhm stellen. Toulouse ist ein gutes Beispiel dafür. Für die dortigen Jurastudenten spielt die Anziehungskraft von Paris keine große Rolle. Die Fakultät von Toulouse bleibt lange ohne Konkurenz in ihrer Region und zieht vor allem Studenten aus den départements des Südwestens (mit der Gründung der Rechtsfakultät von Bordeaux wird der Anteil dieser Studenten an der Pariser Fakultät dann weiter abnehmen). Sie ist gastfreundlich und nimmt ausländische Studenten auf (aus Russland, Ägypten, Spanien usw.). Am vorabend des Ersten Weltkriegs sind dort mehr als dreißig ausländische Studenten eingeschrieben, während sie in Paris um 1910 circa 900 sind. Letztendlich verkleinert sich ihr Rekrutierungsbecken und zählt vor 1914 nur noch die Haute-Garonne und die angrenzenden Departements. Auf der Seite des Lehrkörpers zeigt sich ein ähnlicher Tendenz : Viele Professoren aus Toulouse haben vor Ort schon studiert und möchten dort auch ihre Karriere beenden. Natürlich ist das Studium im rosaroten Stadt für manche nur ein Schritt auf dem Weg nach Paris, doch ist dieser Fall eher selten (dazu gehören z.B. Charles Beudant, Achille Mestre oder André Fliniaux). Dabei ist der Fall von Maurice Haurious in Erinnerung geblieben, dem es nicht gelang einen Lehrstuhl in Paris zu erhalten. Aber in der Regel entscheiden sich Professoren die eine Verbindung zu Toulouse haben, auch wenn ihre Karriere in anderen Städten des Südens oder in Algier beginnt, später für eine endgültige Rückkehr in die okzitanische Hauptstadt. Weit weg von den Pariser Lichtern.

Während die Pariser Universität ihre Einfluss und ihre Macht inszeniert, beansprucht Toulouse ihrerseits eine prestigeträchtige Rechtstradition, die bis ins 13. Jahrhundert zurückreicht (die Entstehung der Universität geht auf das Jahr 1229 zurück), sowie eine nie dementierte historische Sensibilität in der Rechtsauslegung, die sich von den traditionell geltenden Methoden der Rechtsinterpretation abhebt. Diese Sensibilität wird insbesondere durch die humanistischen Juristen veranschaulicht, die in Toulouse (von Jean de Coras über Jacques Cujas oder Jean Bodin bis hin zu Pierre Grégoire) verkehrten oder lehrten, aber auch ab den 1850er Jahren durch die Entstehung seiner “Historischen Rechtsschule”, die ihre Methoden den deutschen Juristen entlehnt. Unter dem Second Empire wird Toulouse für einigen Jahren, nach Straßburg, zu einem zentraler Ort des deutsch-französischen intellektuellen Austauschs. 1851 beteiligen sich mehrere Professoren aus Toulouse an der Schaffung einer in der Entwicklung der Rechtswissenschaft einzigartigen Institution : die Académie de législation de Toulouse, in der auch die größten deutschen Juristen (Savigny, Mittermaier, Bluntschli usw.) involviert sind. Bis heute, 150 Jahren nach ihrer Gründung, setzt die Akademie ihre Arbeit fort. So wurde für Toulouse die Erneuerung der juristischen Methoden (sowohl in den Bereichen des Verwaltungsrechts, des Strafrechts als auch des internationalen Privatrechts) zu einer Spezialisierung und zu einem Identitätsmerkmal. Immer wieder werden die nachfolgenden Professorengenerationen darauf beziehen. Während in Frankreich mehrere Fakultäten ähnliche wissenschaftliche und kritische Ambitionen hatten (zum Beispiel Straßburg und Lyon), hat sich die Pariser Fakultät ihrerseits nie wirklich einen solchen reformatorischen Ehrgeiz auf die Fahne geschrieben (obwohl natürlich einige ihrer Lehrer an der Spitze der intellektuellen Debatten standen und es ebenfalls verstanden, ihre Disziplin zu entwickeln).

Die Hochschulpolitik des französischen Staats trug damals dazu bei, den Wettbewerb zwischen den juristischen Fakultäten zu verschärfen. Mit der Gründung neuer staatlicher Fakultäten sowie neue, nach dem Gesetz zur Hochschulfreiheit von 1875 entstandene, neue freie Institutionen (katholische Fakultäten, städtische Schulen, private Institutionen) erhöht sich das pädagogische Angebot. Dadurch erhalten Studenten und Professoren eine deutlich größere Auswahl an Institutionen, Kursen, Ausbildungen und Positionen, was mit neue und besseres Karriere- und Erfolgsaussichten einhergeht. Im Zuge dessen verbessern sich auch die materiellen Bedingungen : Viele Gebäude werden saniert, Bibliotheken werden geöffnet oder erweitert . Im Kontext von sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungen, von tiefgreifenden Veränderungen im Organisation des Staates, und, seitens der Familien, von größerem Bedarf nach beruflichen Abschlüssen, vervielfacht und verallgemeinert die Regierung die unterrichteten Disziplinen. Die bis dahin zivilrechtlich orientierte Ausbildung bereichert durch Lehre in den Bereichen Rechtsgeschichte, politische Ökonomie, Verfassungsrecht, Verwaltungsrecht, Kolonialgesetzgebung usw. Die juristischen Fakultäten wollen keine bloßen Berufsschulen sein, sondern gehobene, kulturelle Institutionen, in denen der „juristische Geist“ und Grundprinzipien vermittelt werden. Neue Fördermittel (z.B. durch Universitätsstiftungen oder Gemeinden) ermöglichen eine bedarfsgerechte Ergänzung des Angebots und bieten eine Reihe von Zusatzkursen, Freikursen oder fakultativen Vorlesungen (in kleinen Gruppen) an. Natürlich sind die Ressourcen von Paris viel größer als die der anderen Fakultäten, aber letztere versuchen, diese Mittel geschickt im Dienste einer je nach Standort mehr oder weniger ambitionierten und kohärenten Politik einzusetzen. In Toulouse ermöglichen die staatliche Töpfe die Schaffung von ergänzenden Vorlesungen (Pandektenwissenschaft, Völkerrecht, Rechtsgeschichte usw.). In ähnlicher Weise fördert die Stadt selbst für einige Jahre Vorlesungen in Seerecht, Gesetzgebung und ländlicher Wirtschaft oder vergleichenden Zivilrecht. Andere Vorlesungen in Gefängnis- und Sozialwissenschaften werden mit den Mitteln der Universität selbst finanziert. In Sache pädagogische und wissenschaftliche Innovation hat sich die der klassischen Kultur sehr verbunden gebliebene Pariser Fakultät oft relativ zurückhaltend gezeigt, da sie den Entwicklungen nicht zuvorkam sondern eher folgte oder folgen musste. Trotz ihrer privilegierten Position pflegt sie keine internationale Politik in dem Sinne ; auch versucht sie weder die praktischen Lehren zu stärken noch zeigt sie große Bestreben, sich nach außen zu öffnen. Dennoch sind die Pariser Professoren der Konkurrenz der École libre des sciences politiques (1872) und der École des hautes études commerciales (1881) konfrontiert, sowie die der katholischen juristischen Fakultät. Für Professoren und Studenten schließt dies jedoch den Austausch zwischen den Hochschulen nicht aus. Mehr als jede andere steht in diesem Kontext die Pariser Fakultät vor der Herausforderung, sich auf dem Markt der Abschlüssen und der Vorbereitung der hohen Beamten der Nation (neu) zu positionieren. Toulouse und die anderen Fakultäten Frankreichs beteiligen sich natürlich an der Entwicklung dieser „Regierungswissenschaften“, die besonders in der Lehre der politischen Ökonomie verkörpert ist. Symbolischerweise verleiht die Fakultät von Toulouse hervorragende Studenten einen Stipendium zum Studieren an der École libre des sciences politiques. Das öffentliche Recht erlebt dann 1896 einen regelrechten Aufschwung, der 1896 durch die Unterteilung der Rechts-Aggregation (Zulassungsprüfung zur Lehre des Rechts) in mehreren Spezialitäten befördert wird. So entsteht eine Gemeinschaft von Spezialisten des öffentlichen Rechts mit ihren spezifischen wissenschaftlichen und erzieherischen Werkzeugen, die die Arbeit des Conseil d’État (höchstes Verwaltungsgericht) aufmerksam beobachtet. Einige Pariser Professoren integrieren sogar, ohne jede Gewissenskonflikt, das Conseil des republikanischen Staates, Hüter seiner Prinzipien und Werte. Einige freie Vorlesungen zur „Sozialwissenschaft“ werden in den Fakultäten von Paris, Toulouse, Bordeaux oder auch Nancy eingeführt. Doch stößt die junge Disziplin, die später Soziologie genannt wird, eher auf Widerstreben der meisten juristischen Fakultäten. Und so wird die Anerkennung stattdessen von der Seite der Philosophischen Fakultäten sowie von einigen anderen Pariser Institutionen kommen (bspw. der Collège libre des sciences sociales und die École des hautes études sociales), die um 1900 dieses Gebiet, seinen Ansatz und seine Ergebnisse beanspruchen werden.

Viel eher als unter der (zu entfernten) Pariser Konkurrenz leidet die Fakultät von Toulouse vor allem unter der Konkurrenz ihrer provinziellen Rivalen : die Fakultäten von Bordeaux und Montpellier werden jeweils 1870 und 1978 gegründet. Diese Institutionen reduzieren nicht nur ihr Rekrutierungsbecken im Süden, sondern auch die Einnahmen, die von den Studiengebühren kommen. Für relativ kurze Zeit existiert sogar eine katholische Rechtswissenschaftliche Fakultät. Nach 1900 sind der Dekan von Toulouse und seine Kollegen auch über die Entstehung der juristischen Hochschulen in Limoges (1909) und Clermont-Ferrand (1913) besorgt. Dort bilden Anwälten die Mehrheit des Lehrkörpers. Sie werden von Gemeinden finanziert, die notablen Familien zufriedenstellen wollen, die die Zukunft Ihrer Kinder ohne Weggehen zu müssen und ohne unnötige Kosten sichern wollen. Zu dieser manchmal als unfair angesehenen Konkurrenz kommt in Toulouse die Angst hinzu, gegenüber Paris an Rang zu verlieren und „provinzialisiert“ zu werden, besonders in einem akademischen Raum, der sich immer mehr auf nationaler Ebene strukturiert (man kennt gleichzeitig die Spannung zwischen „kleinen Vaterländern“ und Nationalstaat). Denn Toulouse hegt die Ambition, ihre alte Rechtstradition (die sich auf ihre okzitanische Geschichte ruht), deren Einzigartigkeit und Fähigkeit sie beansprucht, mit ihrem Status als „die“ andere große französische Rechtsfakultät zu kombinieren. Dafür muss sie zeigen, dass sie weiterhin auf einer Höhe mit Paris ist. Mit anderen Worten, Toulouse will nicht nur eine provinzielle Fakultät zu sein, sondern eine Fakultät mit nationalen Ambitionen in der Provinz. –°Ein schwieriges Unterfangen. Während seines langen Dekanats widmet sich Maurice Hauriou unaufhörlich dieser Ambition, die es seiner Fakultät ermöglichen würde, Tradition und Moderne zu vereinen und so ihren Rang und ihren Ruf zu festigen. Das deutsche Modell ist hier nicht weit entfernt. Es soll nicht darum gehen, ganz auf gleicher Ebene mit Paris zu spielen (dafür ist der Ausgangslage zwischen die zwei Fakultäten zu unterschiedlich), sondern eine vollwertige juristische Fakultät zu sein, die sich um die Qualität des Studiums, den Wert der Professoren, den wissenschaftlichen und pädagogischen Ruf der Institution, ihre Beziehungen zu den Berufswelten kümmert (zum Beispiel gründete die Fakultät 1905 ein technisches Institut des Rechts, das aus einer Schule des Notariats und einer praktischen Rechtsschule bestand).

Konflikte

Soll man sich mit der Dominanz von Paris abfinden ? Immer weniger sind die Fakultäten der Provinz geneigt, vom Ministerium als Institutionen “zweiter Klasse” behandelt zu werden. Das anhaltende Gefühl, von den sukzessiven Regierungen schlecht behandelt zu werden und von Pariser Kollegen, die reich ausgestattet sind und erhebliche Vorteile genießen, etwas verachtet zu werden, veranlasst sie, kollektiv zu handeln, um ihre Interessen zu verteidigen. Tatsächlich geht die Initiative einer kollektiven Aktion der Provinz-Fakultäten von Toulouse aus. Der Professor und Autor von renommierten Publikationen zum Verwaltungsrecht Maurice Hauriou plante 1904 die Gründung einer Vereinigung der Mitglieder juristischer Fakultäten, mit der Intention, die Fakultäten der Provinz enger mit den Machtzentren zu verküpfen (angefangen mit dem Ministerium), um so mehr Einfluss auf ihr eigenes Schicksal zu gewinnen. Dabei gibt es zwei Hauptforderungen : Erstens eine allgemeine Verbesserung des Status der Provinzprofessoren (man soll nicht vergessen, dass der Professorengehalt in der Provinz deutlich geringer ist als in Paris), und zweitens eine bessere Vertretung der Professoren aus der Provinz in den verschiedenen Komitees, Jurys usw., die systematisch von der Pariser Fakultät dominiert sind. Das Projekt wird dann von dreizehn Kollegen unterstützt. Diese stammen aus Disziplinen, die eher ans sekundär gelten, deshalb ist ihr Anliegen auch, das Modell der zivilrechtlichen und gerichtlichen Exzellenz in Frage zu stellen. Doch scheitert dies leider am geeinten Widerstand der Pariser Fakultät und der konservativen Fraktion unter den Professoren der Provinz, die sehr an dieser zivil- und justiziellen Orthodoxie hält. Dennoch ist die Toulouser Initiative nicht umsonst gewesen, denn 1909 wird tatsächlich eine Vereinigung der Mitglieder der juristischen Fakultäten gegründet. Diese beruht auf einer einvernehmlicheren und inklusiveren Grundlage, indem die Pariser und das Zivilistenmodell weniger stigmatisiert sind. Dennoch wird diese Vereinigung, dessen Zweck die Verteidigung gemeinsamer Interessen ist, von Paris mit Misstrauen begegnet, bietet sie doch den Sprechern der Provinzialen eine Plattform, um den Zentralismus und die ungleiche Verteilung der Ressourcen (finanzielle aber menschliche und symbolische u.A.) in Frage zu stellen. Die Teilnahme (um nicht zu sagen die Vereinnahmung) der Pariser Professoren an große kollektive Operationen erweist sich in Wirklichkeit als eine entscheidende Bedingung ihrer Erfolg und Tragweite. Bereits 1901 bedauerte der Zivilrechtler François Gény aus Nancy, dass die junge Société d’études législatives (Gesellschaft für Gesetzgebungsstudien), ursprünglich von ihm und einigen anderen als Instrument zur Belebung und Anregung von methodischen und wissenschaftlichen Diskussionen in der Provinz konzipiert, sich in einen Think Tank im Dienste der Pariser Interessen verwandelt hatte.

Zweifelsohne hatten die Fakultäten der Provinz einige legitime Gründe, die Haltung der Pariser Fakultät, sowie der ihnen übergestellten Pariser Instanzen, anzuprangern. Hauriou gelang es, die wachsende Unzufriedenheit eines Teils seiner Kollegen zu kristallisieren. Als erster löst er eine kollektive Welle an Protesten aus, die sich dann noch verbreiten wird. Nach dem Ersten Weltkrieg werden die Meinungsverschiedenheiten zwischen Paris und der Provinz immer deutlicher zum Ausdruck gebracht, insbesondere in der Frage der Gehälter der Juraprofessoren.  Diese Konflikte werden jedoch nicht bis zum endgültigen Bruch ausgetragen und die Einheit der Disziplin (wenn auch gespalten) wird vorherrschen. Sind die kriegerischen Erklärungen einmal abgeebt und Hauriou inzwischen 1920 Vorsitzende der Aggregationsjury geworden, rekrutieren er und seine Kollegen zwei Professoren aus der Provinz… und drei aus Paris ! Statt einer direkten Konfrontation mit Paris ziehen die Fakultäten der Provinz (die hier ohne Anspruch auf Vollständigkeit behandelt sind) meistens Strategien der Territorialisierung (zum Beispiel durch lokalen „doktrinellen Schulen“) oder durch Internationalisierungstrategien (etwa die Teilnahme an internationalen Kongressen oder das Unterrichten im Ausland) vor. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs verkörpert Toulouse durch Maurice Hauriou diese Epoche der „Kathedralen der Doktrin“, während Paris seinerseits sich weiterhin als Rektorin des nationalen Rechtslebens sehen will.

Frédéric Audren, Forschungsdirektor am CNRS, Forscher am Centre for European Studies (CEE – CNRS), research professor an der École de droit de Sciences Po


Literaturangaben

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