Fakultätsmobilisierungen : der Fall der Rechtsfakultät von Lyon


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In einem militärischen Konflikt können die Universitäten dem Staat, von dem sie abhängen, Ressourcen verschiedener Art zur Verfügung stellen. Die erste davon ist menschlicher Natur, das heißt ihre Studenten ihrer militärisch mobilisierten Professoren. In einem solchen Kontext können die Universitäten zusätzlich wissenschaftliche Ressourcen zur Verfügung stellen, deren militärische Anwendungen von entscheidender Bedeutung sein können. Schließlich können sie nicht unerhebliche symbolische Ressourcen bereitstellen. Allein durch die bloße Tatsache, dass sie in widrigen Zeiten fortbesteht, fungiert die Wissensproduktion als Beweis der Stärke des kriegführenden Landes sowie seiner Widerstandsfähigkeit gegen die unvermeidliche Desorganisation, die jeden Konflikt mit sich bringt. Aber diese intellektuelle Produktion kann noch auf eine andere Weise zu den Kriegsanstrengungen beitragen, und zwar indem sie die kriegerische Entschlossenheit der Studenten, die nicht bereits mobilisiert sind, sowie die der breiten Öffentlichkeit, festigt. Um dies zu erreichen, müssen die Akademiker allerding bereits sein, auf die wissenschaftliche Dimension ihrer Einrichtungen, das heißt die Ideale von Objektivität, Kritik und Universalismus, zu verzichten. Sie müssen sich der patriotischen Leidenschaft des Augenblicks blindlings anschließen, und vor allem akzeptieren, in den öffentlichen Raum einzudringen. Einige spektakuläre Beispiele zeigen, wie es unter der Einfluss eines verschärften Patriotismus zu einer Blindheit und Trübung des Intellekts führen kann. Dennoch erlaubt die Analyse des Verhaltens von Professoren an der juristischen Fakultät von Lyon während des Konflikts, eine Nuancierung dieses Bildes. In der Tat war in Lyon die intellektuelle Mobilisierung der Juraprofessoren nicht immer sehr intensiv ; sie war auch nicht sehr spontan.

Militärische Mobilisierung der Lyoner Professoren

Die allgemeine Mobilisierung, die am 1. August 1914 verordnet wird, betrifft das Lehrpersonal der juristischen Fakultät von Lyon ungleichmäßig. Beispielsweise besteht der Lehrkörper der jungen Tochtereinrichtung in Beirut, die französischen Rechtsschule, die 1913 eröffnet wurde, aus jungen, noch nicht dreißigjährigen Juradoktoranden. Diese werden sofort in Kampfeinheiten mobilisiert. Daher sind sie gezwungen, ihren pädagogischen Posten aufzugeben. Der Fakultät bleibt dadurch keine andere Wahl, als zu schließen, und das gerade, als die allererste Prüfungssession, die für den Herbst geplant war, hätte stattfinden sollen. Die juristische Fakultät von Beirut wird 1919 nicht ohne Schwierigkeiten wiedereröffnet, aber zwei ihrer ersten säkuläre Professoren (viele von Ihnen stammen sonst aus der Kirche) – Claude Blanc und Louis Berthoumeau – nehmen ihren Platz nicht wieder ein : Beide fallen in den ersten Kriegswochen, Opfer ihrer Verletzungen, der erste am 30. August, der zweite am 12. Oktober.

Der Rückruf zur militärischen Tätigkeit hatte keinen so großen Einfluss auf die Lehrkräfte an der juristischen Fakultät von Lyon, die zweifellos aufgrund des Alters ihres Lehrkörpers am wenigsten unter den temporären Weggang ihrer Professoren leiden muss. Wenn die Rechtsfakultät von Lyon in den ersten zwei Jahrzehnten ihres Bestehens eine bedeutende Personalfluktuation kennt, was der erste Dekan Exupère Caillemer regelmäßig beklagt, so ist dies ab Mitte der 1890er Jahre nicht mehr der Fall. Mit einem Pool von ebendort ausgebildeten Juristen die mehr als froh sind, nach der Bestehen der agrégations-Wettbewerb (Lehrbefähigung) dort Unterrichten zu dürfen, hat sie es zu Beginn des 20. Jahrhunderts geschafft, junge Juristen mit Ausbildung in Paris – wie Edouard Lambert, Paul Huvelin oder Emmanuel Lévy – zu behalten, die sogar ihre gesamte Karriere in Lyon absolvieren. Die Konsequenz dieser Stabilisierung der Professoren in den letzten zwanzig Jahren ist natürlich auch, dass sich um 1914 die Mehrheit der Professoren sich dem Alter von 50 Jahren nähern, dem Alter also ab dem die Männer endgültig von ihren Militärdienstpflichten befreit sind.

Daher sterben in Lyon im Rahmen des Konflikts „nur“ drei Professoren : die Professoren für politische Ökonomie René Gonnard und Charles Brouilhet sowie der Professor für Verwaltungsrecht Jean Appleton. Diese 40-Jährigen waren jedoch einem viel geringeren Risiko des Todes ausgesetzt als ihre Studenten. Ihr Alter bewahrte sie von vornherein vor in den Kampfeinheiten gehen zu müssen. Sie wurden also entweder in Regimenten der sogenannten Territorialarmee (René Gonnard) eingesetzt, die verschiedene militärische Arbeiten abseits der Front ausführen sollten, oder in den verschiedenen Hilfsdiensten der Armee. Letztere bildeten eine Militärverwaltung, die durch den langwierigen Krieg bald weiträumig werden sollte und für die das hohe Maß an juristischen, wirtschaftlichen und manchmal sogar sprachlichen Fähigkeiten der Juraprofessoren von unschätzbarem Wert war. Dies zeigt das Beispiel des Lehrers Charles Brouilhet. Bereits im Sommer 1914 wurde er in die Verwaltungskräfte eingeteilt und verlangte nach dem Waffenstillstand, dass er bis zur vollständigen Einstellung der Feindseligkeiten unter den Fahnen bleiben solle. Tatsächlich ist damals der Jurist und Ökonom Charles Brouilhet, der vor dem Krieg mehrere wissenschaftliche Reisen nach Deutschland unternommen hatte und die Sprache des Feindes sprach, immer noch in der Lage war, viele Dienste zu leisten. Er wurde ab dem 18. November 1918 als technischer Berater im Generalstab des Oberkommandos der alliierten Armeen, die mit der Verwaltung der Rheinländer betraut waren, zum Hauptquartier ernannt und war zweifellos unentbehrlich geworden, da er am 11. November 1919, weniger als drei Wochen nach seiner Demobilisierung, diesmal zum Professor für politische Ökonomie an der nun an Frankreich zurückgegebenen juristischen Fakultät in Straßburg ernannt wurde. Diese neue universitäre Stelle erlaubt es ihm, weiterhin die Funktion des Leiters des Legislativdienstes für die Rheinprovinzen bei der Interalliierten Rheingebietskommission auszuüben. Sie bietet ihm auch die Möglichkeit, an der Gründung der Mainzer Rechtsschule mitzuwirken.

In diesem Kriegskontext ist der Werdegang von Jean Appleton, Professor für Verwaltungsrecht und Rechtsanwalt an der Anwaltskammer von Lyon, außergewöhnlich in mehreren Hinsichten. Dies hat sowohl mit dem unbestreitbaren Verlangen nach persönlichem Engagement dieses Mannes zu tun, als auch mit der Notwendigkeit, seine Ideen zu dienen, und nicht zuletzt auch mit seinen angloamerikanischen Wurzeln, die für Armee ein großer Vorteil sind, wenn 1917 die Vereinigten Staaten den Krieg eintreten. Jean Appleton wurde 1868 in Charolles geboren und ist der Sohn des Romanisten Charles Appleton. Es ist auch der Enkel von John James Appleton, einem ehemaligen US-Konsul in Frankreich, das seine Wahlheimat wurde. Jean Appleton, ein militanter Dreyfusard und Gründer der Lyoner Sektion der Ligue des droits de ‘Homme, hätte dazu veranlasst werden können, der Militärinstitution mit etwas Misstrauen zu begegnen. Offensichtlich ist es nicht der Fall. 1912, als die Stunde der endgültigen Entlassung aus der Wehrpflicht gekommen ist, bietet er ausdrücklich darum, Mitglied der Reservearmee zu bleiben, obwohl er Alfred Dreyfus weiterhin berät, anlässlich seiner gerichtlichen Auseinandersetzungen mit einem Teil der Presse, der das Revisionsurteil von 1906 immer noch ablehnt… Zum Zeitpunkt der Mobilmachung im August 1914 war er zum Stellvertreter des Kriegsrates von Grenoble ernannt worden und ab Oktober desselben Jahres in gleicher Eigenschaft nach Lyon versetzt. Doch ist dies wahrscheinlich eine zu ruhige Aufgabe für Appleton. Zu einem von Natur aus kämpferischen und handlungshungrigen Temperament kam vielleicht noch das schlechte Gewissen dazu, ein “Hinterhältiger” zu sein, wie die Soldaten der Front sagen. Unter diesem Begriff wird damals jeder Mann in Uniform verstanden, der nicht wirklich die Risiken des Krieges auf sich nimmt. Als 1915 ein neuer Schauplatz militärischer Operationen auf dem Balkan sich aufmacht, beantragt und erhält Jean Appleton die Eingliederung in das Expeditionskorps des Ostens. Dort wird er im Stab zugeteilt und muss sich schnell Koordinierungs- und Führungsfähigkeiten aneignen, denn er ist für Ordnung und methodische Entscheidungen beim Be- und Entladen zahlreicher Schiffe verantwortlich, die Soldaten, Waffen und Ausrütung aller Art befördern. Ab 1916, als Frankreich beginnt, seinem serbischen Verbündeten bei der Reorganisation seiner dezimierten Armee zu helfen, bringt ihm die gute Kenntnis der Region und die Fähigkeiten als Verwalter die Abordnung als Stabschef zur französischen Mission bei der serbischen Regierung ein. Mit dem Kriegseintritt der USA im Frühjahr 1917 und die Aussicht auf eine baldige und massive Ankunft amerikanischer Truppen kehrt er nach Frankreich zurück. In der Tat ist der Professor, der amerikanische Wurzeln hat und jetzt sehr erfahren in der Kunst der Truppenlandung ist, in vielerlei Hinsicht “der rechte Mann am rechten Platz” ist. Mit großer Ergriffenheit empfängt er am 26. Juni 1917 den General Pershing und die ersten Soldaten aus den USA im Hafen von Saint-Nazaire, dem damaligen Hauptstützpunkt der Vereinigten Staaten in Frankreich. Mehrere Monate lang spielt Kommandant Appleton die heikle Rolle des Vermittlers, nicht nur zwischen der französischen Armee und der US-Armee, sondern auch zwischen dieser und den verschiedenen lokalen zivilen Behörden, die mit der Ankunft von „Sammies“ mit einer so unterschiedlichen Kultur viele Schwierigkeiten erwarten. Jean Appleton wurde zum Bataillonsführer befördert und beendet den Krieg im Generalstab der Armee, im französisch-amerikanischen Sonderbüro, das er fast zu seinem Bedauern verläßt, um im November 1918 seinen Platz an der juristischen Fakultät von Lyon einzunehmen. Appleton ist mit dem militärischen Leben derart zufrieden, dass er erst nach langem Drängen des Dekans und seiner Kollegen akzeptiert, dem Weg des Hörsaals und seiner universitären Verpflichtungen einzuschlagen. Er wird seine Rückkehr nach Lyon nutzen, um die öffentliche Vortragsreihen, die seine Kollegen ohne großem Enthusiasmus während der Dauer des Konflikts fortgeführt hatten, neu zu organisieren, und mit der französich-amerikanischen Freundschaft zu artikulieren.

Zwanghafte intellektuelle Mobilisierung

Bekanntlich war der Auslöser für die Mobilisierung der französischen akademischen und wissenschaftlichen Kreise die Veröffentlichung, in der deutschen nationalen Presse im Oktober 1914, eines Textes mit dem Titel „Der Ruf der Deutschen an die zivilisierten Völker“. Dieser Text wurde von 93 Intellektuellen, Künstlern und Universitätsprofessoren aus Deutschland. In Frankreich besser unter dem Namen Manifest der 93 bekannt, widerlegt dieser Text kategorisch die Vorwürfe von Barbarei und vom Verstoß gegen das Völkerrecht, wegen denen Deutschland seit den ersten Stunden des Konflikts, und insbesondere seit der Verletzung der belgischen Neutralität, von seinen Gegnern angeprangert wurde. Auch wenn der Text insgesamt nur 93 Unterzeichner versammelt, so wird er in Frankreich doch sofort als eine Stellungnahme der gesamten deutschen Wissenschaftsgemeinschaft wahrgenommen. Aus französischer Sicht ist es der endgültiger Beweis der vollständigen Solidarisierung der deutschen intellektuellen mit der Regierung und den Streitkräften. Die französischen Intellektuellen prangern daher bei den neutralen Ländern diese Haltung der deutschen Intellektuellen, die als Versklavung gegenüber dem preußischen Militarismus bezeichnet wird.

Die erste kollektive Reaktion der französischen Universitäten nimmt daher die Form eines von den Pariser Professoren ausgearbeiteten Manifests an, dem sich ihre Provinzkollegen einstimmig anschließen. Auf die lange Litanei der Leugnung auf deutscher Seite wird hier mit einer Litanei an Fragen beantwortet, deren antworten unschwer auf Deutschland als der Auslöser und Verantwortlicher dieses Konflikts hinweisen und die Richtigkeit des Kampfes der Allierten und Frankreichs betonnen. Offenbar scheinen nur die wenigsten unter den unterzeichnenden Intellektuellen zu realisieren, dass diese Initiative hiermit auf seltsame Weise das vorgeworfene Vorgehen der deutschen Intellektuellen wiederspiegelt.

Natürlich waren auch Professoren der Universität von Lyon unter den Unterzeichnern dieses Textes. Allerdings, während an der Pariser Universität zahlreiche Professoren eine intensive Propaganda-Kampagne betreiben (darunter etwa der Historiker Ernest Lavisse, der Soziologe Emile Durkheim oder auch der Dekan der juristischen Fakultät von Paris, Ferdinand Larnaude), hält es die Universität von Lyon offenbar nicht für angebracht, nach dieser ersten öffentlichen Stellungnahme weitere Schritten zu gehen.

Liegt dies an eine Trägheit, an Vorbehalte oder an der Missbilligung seitens der Professoren der Universität oder spezieller der juristischen Fakultät, die gerade in diesem „Rechtskrieg“ sozusagen von Natur aus dazu berufen war, sich öffentlich zu äußern und Stellung zu beziehen ? Da keine Sitzungsprotokolle des Rats der juristischen Fakultät von Lyon in der Archiven vorhanden sind, kann diese Frage nicht wirklich beantwortet werden. Zweifellos vermittelt der von Dekan Josserand für das Jahr 1913-1914 erstellte Bericht bereits tragische Akzente und etwas antiquierte Bilder : insbesondere die des Rechts, das der Gewalt unterworfen wird, das aber von den allierten Armeen bald befreit wird ; wie auch das Bild der Jurastudenten der heldenhaft für das Recht stirbt. In ähnlicher Weise sieht man wie im Bericht von Maurice Picard über die Wettbewerbe des Jahres 1913/14, der Konflikt bereits mit einem Gegensatz zwischen „der Zivilisation und Germanien“ beschrieben wird, wobei die Barbarei und andersartigkeit der deutschen durch die Wahl dieser Bezeichnung selbst impliziert wird. Nichts deutet jedoch mit Sicherheit darauf hin, dass diese Stellungnahmen anlässlich der Wiederaufnahme der Vorlesungen wiederholt wurden. Ein Blick in die Archiven der lokalen Presse liefert nichts derartiges : Im Gegensatz zu der von den Dekanen der juristischen Fakultäten von Paris oder Toulouse beobachteten Haltung wird weder vom Dekan Josserand noch von einem seiner Kollegen, der die anderen Lyoner Fakultäten vertritt, eine Veröffentlichung von Äußerungen dieser Art vernommen.

Dieser Mangel an Eifer, sich auf einen Kreuzzug gegen die deutsche Wissenschaft zu begeben, erklärt ein dringenden Appell des Universitätspräsidenten, der außerdem der Rektor der Akademie von Lyon ist. Er ruft dazu auf, dass die Lyoner Wissenschaftler, alle Fachrichtungen zusammengenommen, endlich aus ihrem Schweigen treten und die Zurückhaltung aufgeben, in der sie seit Beginn des Konflikts verharren. Anlässlich der Ratssitzung der Universität am 5. Dezember 1914 fordert der Rektor Paul Joubin die Vertreter der vier Fakultäten dazu auf, deutlich in die Öffentlichkeit zu tretten, um die Sache Frankreichs gegenüber Deutschland intellektuell zu unterstützen. Vielleicht, weil alle Hoffnungen auf einen kurzen Krieg zunichte gemacht worden sind, erscheint es fortan notwendig, sich auch in die Arena des öffentlichen Diskurses zu begeben, um den patriotischen Eifer der Öffentlichkeit und der Bevölkerung möglichst aufrechtzuerhalten. Dabei kommt die Bitte des Rektors an den Professoren einem Befehl sehr nahe, auch wenn dies diplomatisch mit einer angeblichen Erwartung der Lyon-Bevölkerung umformuliert ist, zu deren Fürsprecher sich der Rektor zu machen behauptet.

Man muß also bis Anfang des Jahres 1915 warten, bis die Wirkung dieses Appells konkret wird. Initiativen, sei es Fakultätsspezifischen und übergreifend, werden auf die Beine gestellt. Die juristische Fakultät beschließt beispielsweise, zwei Vorlesungen Öffentlich zugänglich werden zu lassen : die Vorlesung zu öffentlichen Finanzen, die damals von Emile Bouvier geleitet wird und den französischen Finanzen im Krieg gewidmet ist, und, viel emblematischer, die Völkerrechtsvorlesung, die damals vom Inhaber des gleichnamigen Lehrstuhls, Paul Pic, geleitet wird. Dank der lokalen Presse, die diese nun öffentlichen Vorlesungen bewirbt, lässt sich die Liste der in den zehn Sitzungen behandelten Themen rekonstruieren. „Der Pangermanismus“, „Die Gesetze des Krieges : Gegensatz der französischen und deutschen Doktrinen“, „Das neutrale Belgien, das Kriegsrecht nach den Genfer und Haager Konventionen“, „Wer hat den Krieg gewollt ? Seine Ursprünge nach den diplomatischen Dokumenten“, „Die systematische Verletzung des Kriegsrechts durch die österreichisch-deutschen, notwendigen Sanktionen“ : die Titel lassen kaum Zweifel an der Positionnierung des Professor.

Die bemerkenswerteste der Lyoner Universitätsinitiativen ist jedoch ab dem Frühjahr 1915 die Organisation von Vortragsreihen, die sich ebenfalls an die breite Öffentlichkeit richten und von den Professoren der vier Fakultäten geleitet werden. Über zwei Jahren finden sie regelmäßig statt und wurden in einer Sammlung mit dem Titel „Kriegsfragen“ veröffentlicht, die zu Ende des Konflikts vier große Bände umfassen. Im Vorwort des ersten Bandes erinnert Rektor Joubin mit einer Betonung, in dem die Hypothese der anfänglichen starken Zurückhaltung der Fakultät, im öffentlichen Raum zu intervenieren, zu vernehmen ist : „dass es viele Möglichkeiten gibt, Krieg zu führen. Für diejenigen, die aus Altersgründen vor dem Pflicht des physischen Kampfes geschützt waren, war die Aufklärung und Beruhigung des öffentlichen Geistes eine davon“.

Abgesehen von einem Band über die verschiedenen Mittel zur Bekämpfung des französischen Geburtenrückgangs, der sehr deutlich über die kollektive Angst vor dem Absterben der Nation zeugt und Deutschland nur am Rande betrifft, entbehren diese Vorträge meist jede Originalität. Unabhängig von der Fachdisziplin des Dozenten unterliegen die Vortragsthemen den patriotischen Imperativen des Kriegskontext und zielen in der Regel darauf ab, den wissenschaftlichen Beitrag Deutschlands in seinen verschiedenen Facetten zu verunglimpfen. In diesen Vorträgen, die im großen Hörsaal staaatfinden und meistens sehr gut besucht sind, geht es darum, das deutsche wissenschaftliche Denken anzugreifen und endgültig zu diskreditieren, indem man seine Schwerfälligkeit, seinen Pedantismus, seinen Autoritarismus, seine Gewalt und vor allem seine äußerste Gefährlichkeit zeigt, indem man es sowohl für den Konflikt selbst als auch für die grausame Art und Weise, in der diesen geführt wird, verantwortlich macht. Umgekehrt wird der französische Geist hochgelobt, dessen Reichtum, Eleganz, Liberalismus, Individualismus und nicht zuletzt Großzügigkeit gegenüber den Schwächsten und den Kleinsten außerordentlich sei. Einigen Lyoner Rechtsprofessoren gelingt es, sich dieser rudimentären Kontrapunktübung zu entziehen. Charles Appleton, Edouard Lambert, Armand Bouvier-Bangillon, Emile Cohendy und Irénée Lameire glänzen durch Abwesenheit, während ihre Kollegen ungleichmäßig zu diesen Voträgen beitragen. Paul Huvelin, Emile Bouvier und Emmanuel Lévy etwa halten zwei Vorträge ; Jean-René Garraud, Maurice Picard, Paul Pic oder der Dekan Louis Josserand, nur eine einzige. Die ausgewählten Themen glänzten auch nicht durch ihre Originalität : Die deutsche Auffassung des Staats (Emile Bouvier), die Gewalt und das Recht (Louis Josserand), die deutsche Auffassung des Notstandes und seine Anwendung im Völkerrecht (Jean-René Garraud) – es wird ein ganz bestimmter Fokus eingenommen. Dennoch beschäftigen sich manche Vortragenden auch mit Themen, die ihnen zwar am Herzen liegen und den Lyonern angesichts der Besonderheiten ihrer Bevölkerung und ihrer spezifischen Wirtschafts- und Handelsinteressen auch beschäftigen. In einer Stadt, die seit der Niederlage von 1870 eine große Gemeinschaft von Menschen aus Elsaß-Lothringen zählt, wählt Emmanuel Lévy, dessen Familie aus dem Départment Haut-Rhin stammt, das Thema des Frankfurter Vertrages und der Bedingungen, die der Bevölkerung der verlorenen Provinzen vorbehalten war. Paul Huvelin, unermüdlicher Handwerker der französischen juristischen Fakultät in Beirut, entscheidet seinerseits, über die Rolle von Deutschland im Orient vorzutragen, nicht zuletzt, weil die Lyoner Handelleuten – und die juristische Fakultät – in dieser Weltregion viele Interessen haben. Wenn Paul Huvelin anfangs einige Skrupel hat, sich in diese übertriebene Übung der patriotischen Vorträge zu begeben, scheint es, als habe er für diese Übung eine gewisse Vorliebe entwickelt. Als ausgezeichneter Amateurpianist, versierter Musikliebhaber und persönlicher Freund von Debussy und Ravel nimmt dieser Rechtshistoriker 1915 sein Hobby als weiteres Thema, um ein das patriotische Tenor einzuläuten. Es geht diesmal darum, die Exzellenz der französischen Musik hervorzuheben, „deren Kult sich in einer Zeit durchsetzt, in der Deutschland seine vergangene musikalische Größe gegen uns auszunutzen sucht“. Hierfür veranstaltet Huvelin eine weitere Reihe von zwölf musikalische Vorträge ein, deren Texte 1917 im Crès-Verlag unter dem Titel Pour la musique française versammelt und veröffentlicht werden. Er machte keinen Hehl daraus, welchen Einfluss die Entdeckung der Namen von Humperdinck, Weingärtner und Siegfried Wagner unter den 93 Unterzeichnern des „Appels“ auf Ihn gehabt habe : „Und ich empöre mich diese Vertreter der zeitgenössischen „Kultur“ ! Von ihnen und ihrer „imperialen“ Musik verlange ich Rechenschaft !“. Beim Eröffnungsvortrag wird, mit dem hilfreichen Bezug auf Nietzsches Kritik des Autors der Tannhäuser, das Werk von Wagner vom Grund auf kritisiert – ein Komponist, der in Frankreich bisher verehrt war. In der Abschlusssitzung findet er schließlich für sein Publikum beruhigende Worte. Seit vierzig Jahren sei die deutsche Musikproduktion sehr enttäuschend, und, prophezeit er – natürlich mit schwerem Irrtum – wenn die Gustav Malher, Anton Bruckner, Arnold Schönberg oder Richard Strauss, in ihrem eigenen Land, Illusionen machen könnten, würden sie von der internationalen Nachkriegswelt verachtet werden. Im Gegensatz dazu verkörpert Frankreich, so Huvelin, mit Claude Debussy, Maurice Ravel, Gabriel Fauré oder Paul Dukas eine neue Musik, die „die Gabe besitzt, zum Unendlichen zu erwecken“ und ihm eine unbestreitbare universelle Vorherrschaft verleiht.

Nach dem Jahr 1916 sucht man vergeblich öffentlich Äußerungen dieser Art. In der lokalen Presse werden die Namen der Rechtsprofessoren kaum noch erwähnt, außer wenn es um die Höhe ihrer Spenden an die Wohltätigkeitsorganisationen des Krieges geht, oder um darauf hinzuweisen, dass sie den unvermeidlichen Zeremonien vorstanden, die bei der Ankunft von Sanitätszügen von Soldaten am Bahnhof von Brotteaux stattfanden. Im Gegensatz zu anderen provinzialen juristischen Fakultäten, insbesondere der von Bordeaux, investiert die Lyoner Fakultät auch nicht viel in die Förderung von Kriegsanleihen und in die Aktivitäten des lokalen Abteilungskomitees für Gold.

Die Präsenz in die Öffentlichkeit ist daher von kurzer Dauer und scheint vor allem auf einen Reflex des Gehorsams gegenüber den vom Regierungsvertreter im akademischen Bereich festgelegten Richtlinien zurückzuführen zu sein. Gewiß, als die Stunde des Sieges kommt, und damit die der Rückkehr der überlebenden Studentensoldaten, versäumt es der Dekan Josserand nicht, die eingeübte Freund/Feind-Rhetorik zu reaktivieren, als er anlässlich des feierlichen Schuljahres 1919 den kürzlich demobilisierten Studenten erklärt : „[…] wir werden nicht mehr bis in unsere eigenen Arbeiten die Einfluss des schweren germanischen Geistes tragen ; es wird uns erlaubt sein, uns klar auszudrücken ; wir können Bücher schreiben, die keine Repertoires, Wörterbücher oder bibliographischen Zusammenstellungen sind ; Dunkelheit wird nicht mehr mit Tiefe gleichzusetzen sein ; wir werden auf Französisch denken und schreiben ; mit einem Wort, wir können wir selbst sein. Der Zauber ist gebrochen und wir sind für immer befreit, und durch euch, junge Schüler, durch euch und durch die glorreichen Toten, deren Namen ich genannt habe. Dank ihnen, dank Ihnen, eröffnen sich neue Schicksale für die französische Rechtswissenschaft. Indem Sie die germanische Hegemonie gebrochen haben, haben Sie uns das, was wir uns gegeben haben, hundertfach zurückgegeben. Sie haben nicht nur Territorien befreit ; Sie haben das französische Denken selbst befreit. Ihr habt das Recht gemacht, ihr habt es im französischen Stil getan, klar, einfach, heldenhaft : Seid euch der ewige Dankbarkeit eurer Meister sicher !“

Es bleibt jedoch eine Frage, die man sich in Bezug auf den Dekan von Lyon ebenso stellen kann wie in Bezug auf viele andere seiner Kollegen : In ihrem Inneren, wie sehr, wenn überhaupt, glaubten sie selbst an diesen patriotischen Positionen ?

Catherine Fillon, Professorin für Rechtsgeschichte (Universität Lyon III)


Literaturagaben

« Fonds privé Jean Appleton », Archives départementales de l’Ain, 207 J.

Fillon Catherine, « L’itinéraire d’un avocat engagé : l’exemple de Jean Appleton », Revue de la Société Internationale d’Histoire de la Profession d’Avocat, no 6, 1994, p.195-218.

Frobert Ludovic, Potier Jean-Pierre, Tiran André, Économistes en Lyonnais, en Dauphiné et en Forez, Lyon, Éditions de l’Institut des Sciences de l’Homme, 2000.

Milet Marc, Les professeurs de droit citoyens : entre ordre juridique et espace public, contribution à l’étude des interactions entre les débats et les engagements des juristes français (1914-1995), [Chapitre 1 : 1914-1918], Thèse de doctorat, soutenue à l’Université Panthéon-Assas, 2000, 791 p. (dactyl.).

Prochasson Christophe, Rasmussen Anne, Au nom de la patrie : les intellectuels et la Première Guerre mondiale, 1910-1919, Paris, France, La Découverte, 1996.

Rasmussen Anne, « La “science française” dans la guerre des manifestes, 1914-1918 », Mots. Guerres et paix. Débats, combats, polémiques, no 76, novembre 2004, p. 9-23.