Der Ausbruch des Krieges im Sommer 1914 f¨hrte dazu, dass alle europäischen Staaten ihre männliche Bevölkerung zu größtmöglichen Opfern aufriefen. So forderte Frankreich die meisten seiner Bürger im Alter von 20 Jahren, ja sogar von 19 bis über 40, auf, sich der aktiven Armee anzuschließen. Obwohl die Studierenden nur eine Minderheit ausmachten, war ihr Einsatz an der Front dennoch beeindruckend. Sie verkörperten die gesamte Jugend, da Studierende die einzige soziale Gruppe waren, die fast ausschließlich aus jungen Menschen bestand. In den Fakultäten konzentrierte sich also das, was man als „die Jugend Frankreichs‟ bezeichnen könnte, wie es vor allem von Journalisten beobachtet wurde. In der Provinz war die Zahl der Studierenden wesentlich geringer als in Paris, wuchs jedoch stetig. In Bordeaux beispielweise betrug die Zahl der an der Rechtsfakultät eingeschriebenen Studenten kurz vor dem Krieg etwa 1.000. Diese Zahl halbierte sich bis zum Ende des Krieges und wurde erst Anfang der 1930er Jahre wieder erreicht. In den Jahren 1914-1915 gab es nicht einmal eine einzige Anmeldung für das zweite Jahr der Licence ! Von den eingeschriebenen Studenten, deren Zahl durch die Institution künstlich erhöht wurde, nahmen viele aufgrund der Kriegsmobilisierung nie an den Prüfungen teil. Daher waren die großen Hörsäle zu dieser Zeit nur spärlich und überwiegend von Frauen besetzt. Obwohl die Zahl der weiblichen Studierenden während des Kriegs nicht wesentlich anstieg, erhöhte sich ihr Anteil an der Studierendenschaft deutlich durch den Weggang der männlichen Studierenden. Die Zusammensetzung der juristischen Fakultät, die vor dem Krieg zusammen mit der medizinischen Fakultät sowohl die meisten Studierenden insgesamt als auch die wenigsten weiblichen Studierenden aufwies, wurde durch den Krieg also gleich doppelt beeinträchtigt. Darüber hinaus stellte der von den Behörden bekundete Wille, die universitären Aktivitäten auch während des Kriegs fortzusetzen, aus organisatorischer Sicht eine Reihe von Herausforderungen dar. Einige pensionierte Professoren kehrten an ihren Lehrstuhl zurück, um den Unterricht und die Prüfungen ihrer jüngeren, zum Krieg mobilisierten Kollegen, zu übernehmen.
Die Notwendigkeit einer neuen und angepassten Funktionsweise der Universität im Rahmen der Kriegsanstrengungen war jedoch nur eine sekundäre Herausforderung im Vergleich zu dem damit verbundenen menschlichen Drama. Noch heute since in den Universitätsgebäuden Spuren in Form von Kriegsdenkmälern und Gedenktafeln zu finden. In Bordeaux ist dies beispielweise an den ehemaligen Gebäuden der Rechts- und Medizinfakultäten der Fall. Auch in der Fakultät für Literatur und Wissenschaft wurden die Gedenktafeln in der Eingangshalle des Gebäudes, das heute das Musée d’Aquitaine beherbergt, abgehängt, jedoch noch im Lager aufbewahrt. An der großen Treppe der Rechtswissenschaftlichen Fakultät befindet sich neben dem Denkmal für den gefallenen Professor Gustave Chéneaux eine Liste mit den Namen von insgesamt 78 Studierenden, die ebenfalls ihr Leben im Krieg ließen. Heute folgen wir den Lebenswegen von drei von ihnen, deren wir durch Informationen aus den Archiven in einigen Abschnitten wieder aufleben lassen können.
Raymond Cottineau „im Land der Giganten‟.
Raymond Clément Gaston Eugène Cottineau ist einer dieser Studierenden, die dem Willen der Familie folgten, dabei jedoch nie ihre persönliche Leidenschaft aufgaben, die sie einst entwickelten. Raymond wurde 1893 in Luçon in der Vendée geboren. Dass er sich ohne jede Überzeugung für ein Jurastudium entschied, war wahrscheinlich nicht zuletzt auf den Einfluss seines Vaters zurückzuführen, der als Notar tätig war. Raymond und seine ältere Schwester Yvonne verbrachten ihre Kindheit zwischen Luçon, wo ihre Eltern herkamen, und dem Schloss Chillac, einem Herrenhaus aus dem 15. Jahrhundert in der Nähe von Barbezieux in der Charente, welches 1902 von Mme Cottineau erworben wurde. Als Kind einer insgesamt angesehenen Familie war Raymonds Herkunft mütterlicherseits eher bescheidener. Sein Großvater war ein ehemaliger Sattler, der später zum Karosseriebauer wurde. Cottineau besuchte zunächst das Collège in Luçon und später, wahrscheinlich nach der Scheidung seiner Eltern im Jahr 1911, das Collège in La Roche-sur-Yon. Im selben Jahr erlangte er sein Abitur in Philosophie, auch bekannt als „Bac A‟. Dieses Abitur mit den Hauptfächern Latein und Griechisch war besonders begehrt unter der Bourgeoisie, da die griechisch-lateinische Kultur einen wichtigen Faktor für soziale Distinktion darstellte. obwohl er nur eine mention passable erhielt, die zu dieser Zeit unter Abiturienten weit verbreitet war, erhielt Raymond dennoch das begehrte „Sesam-öffne-dich‟, das ihm dem Zugang zur Rechtswissenschaftlichen Fakultät ermöglichte.
Der junge Mann aus der Vendée schrieb sich am 14. November 1911, als das Studium an der juristischen Fakultät in Bordeaux begann, mit einer schriftlichen Erlaubnis seines Vaters ein, da er noch nicht volljährig war. Die Studierenden mussten zunächst eine Einschreibegebühr zahlen, um an den Vorlesungen teilnehmen zu können. Es folgten weitere Gebühren, um die Prüfungen ablegen zu können. Raymond zog in die Place Pey Berland Nr. 3, wo sich die Rechtswissenschaftliche Fakultät in Bordeaux seit dem Bau der neuen Gebäude im Jahr 1873 befand. Trotz dieser idealen Bedingungen konnte sich der Student Cottineau nicht vollkommen auf sein Studium und „sein Recht zu machen‟ konzentrieren. Obwohl er seine erste Prüfung zunächst nicht bestand, absolvierte er das erste Jahr der Licence und anschließend das „Baccalauréat juridique‟. Die Sorgen des jungen Mannes waren jedoch weit entfernt von den Gesetzbüchern, die er in den Hörsälen studierte. Aus seinen Lektüren zog er eine tiefe Leidenschaft zur Poesie. Cottineau konzentrierte sich auf das Schreiben und veröffentlichte seine ersten Gedichte unter dem Pseudonym „Morn Day‟ in der Revue des poètes. Die Poesie war für ihn mehr als nur eine Neigung. Sie war für ihn eine echte Philosophie. Unter dem neuen Pseudonym „Jean L’Hiver‟ schloss er sich der von Anatole Belval-Delahaye gegründeten „Aktionskunstzeitung‟ Les Loups an, die eine Gruppe von Schriftstellern um sich versammelte, welche gemeinsam erklärten : „Um unser Leben in Schönheit zu leben, werden wir zu kämpfen wissen. Die Widerständler, die wir sind, wollen nicht resignieren. Revolte ist für uns Kunst, und jeder von uns wird sie nach seinem Temperament ausüben‟. Die individualistischen Anarchisten wollten mit ihrer konventionellen Ausdrucksweise die „93 der Künste‟ ausrufen und die Politik im Zentrum des gesellschaftlichen Lebens durch die Kunst ersetzen.
Der junge Idealist setzte sein Studium dennoch fort und bestand im ersten Anlauf die zweite juristische Prüfung mit der Note passable. Sein Fleiß ließ jedoch mit dem Jahr 1914 nach. Ende Juli trat er zur Prüfung an, die er mit 8 von 20 Punkten abschloss, und machte sich danach nicht die Mühe, zur zweiten, am nächsten Tag anberaumten Prüfung, zu erscheinen. Da die Prüfungen zu diesem Zeitpunkt ausschließlich mündlich stattfanden, könnte zunächst die Enttäuschung über das Ergebnis des Vortags ein Grund für sein Fernbleiben gewesen sein. Der wahre Grund lag jedoch in den Vorboten des Krieges, die ihn in ihren Bann zogen. Der Schatten des Kriegs lag über ganz Europa , und die Aussicht auf seine bevorstehende Einberufung zu den kämpfenden Truppen belastete ihn. Zudem war der anarchitische Aktivist dem Krieg zutiefst abgeneigt. Als der Aufschub des Militärdienstes, den er 1913 erhalten hatte, um sein Studium fortzusetzen, aufgehoben wurde, folgte er umgehend dem Ruf zu den Waffen und trat in die Reihen des 114. Infanterieregiments in Parthenay ein. Da er seinen Militärdienst noch nicht abgeleistet hatte, absolvierte er dort seine Grundausbildung, um so schnell wie möglich an die Front zu gelangen. Im August erfuhr er vom Tod seines Schwagers, dem Ehemann seiner Schwester Yvonne, während er sich in der Nähe der flämischen Stadt Ypern an der Front befand. Nach einer ersten Verwundung wurde er zur Genesung in das Krankenhaus von Parthenay geschickt, wo er sich dem Verfassen neuer Gedichte widmete. In diesen Zeilen wandte er sich angesichts der Schrecken des Krieges an Gott :
« Ah ! Brisez-moi plutôt !… Que je sois impotent ! [„Ah! Zerbrecht mich lieber!… Dass ich impotent werde!]
Broyez mes bras !… Broyez ces jambes précieuses, [Zerschmettert meine Arme!… Zerschmettert diese kostbaren Beine,]
Qui promenaient ma joie aux minutes heureuses [Die meine Freude in glücklichen Minuten spazieren führten]
où j’allais sans compter ma jeunesse et mon temps [In die ich ging, ohne meine Jugend und meine Zeit zu zählen.]
Rendez-moi monstrueux et crevez mes oreilles ! [Macht mich monströs und stecht mir die Ohren aus!]
Mais ne me plongez pas dans l’éternelle nuit… » [Aber stürzt mich nicht in die ewige Nacht…‟]
Nach seiner Genesung wurde er wieder an die Front geschickt. In der Silvesternacht 1914 erhielt er die Beförderung zum Gefreiten und wechselte am nächsten Tag zum 32. Infanterieregiment, das im selben Einsatzgebiet stationiert war. Wie es der Brauch vorschreibt, musste der neue Offizier Kontakt zu Soldaten aufnehmen, mit denen er bisher keine kameradschaftlichen Beziehungen gepflegt hatte. Vor Ypern war die Frontlinie ein zentraler Konfliktpunk zwischen den Alliierten, darunter die Franzosen und Briten, und den Deutschen. Dort endete im Dezember die Schlacht um Flandern, die das Ende des Wettlaufs zum Meer, der letzten Phase des Bewegungskriegs, einleitete. In den ersten sechs Monaten des Konflikts hatten Belgien, Frankreich und Großbritannien bereits mehr als eine Million Männer verloren. Der erste Schnee zwang die kämpfenden Armeen schließlich in die Schützengräben, die sich nun von der Nordsee bis zur Schweizer Grenze erstreckten. Ab Januar wurde Gefreiter Cottineau zwischen den Schützengräben der ersten und zweiten Linie hin und her versetzt. In der Nacht vom 4. auf den 5. Februar wurde das Schloss Hooge, das als Hauptquartier des Regiments diente, durch deutsche Bombenangriffe in Brand gesetzt. Am 10. Juni kehrten die Männer, die in die zweite Linie zurückgezogen worden waren, in die erste Linie zurück. Dies war der letzte Tag im Leben von Raymond Cottineau. Cottineau war der 18. Student der juristischen Fakultät in Bordeaux, der seit Beginn des Kriegs gefallen war. Die Gedichte, die er während seiner Genesung in Parthenay verfasst hatte, wurden 1915 unter dem von ihm gewählten Titel Le Beau Sacrifice (Das schöne Opfer) veröffentlicht. Von seinem geplanten Werk über die Vendée-Kriege ist nur der Titel bekannt, der auf seltsame Weise seine eigene Geschichte widerspiegelt : Au Pays des Géants (Im Land der Giganten).
Jean Quoique : Ein Ruhm der republikanischen Schule unter Beschuss
Jean Quoique ist ein Beispiel für den Erfolg der republikanischen Schule. Er wurde 1893 in Castillon geboren, wo 440 Jahre zuvor der entscheidende Sieg Frankreichs über England den Hundertjährigen Krieg beendet hatte. Sein Vater war Zimmermann aus Port-Sainte-Marie, eine Gemeinde mit über 3.000 Einwohnern im Departement Lot-et-Garonne, während seine Mutter als „Maître d’Hôtel‟ in einem Lokal an diesem Flusshafen arbeitete. Seine Jugend verbrachte Jean abwechselnd in seiner Heimatstadt und im etwa 30 Kilometer nördlich gelegenen Coutras, wo sich seine Familie später niederließ. Obwohl Quoique aus einfachen Verhältnissen stammte, zeichnete er sich durch hervorragende schulische Leistungen aus und erhielt wahrscheinlich ein Stipendium, für die Sekundarstufe am staatlichen Gymnasium in Blaye. Dort erwarb er das wissenschaftliche Abitur, das sogenannte „Bac C‟, und schrieb sich bereits im Oktober 1911 erstmals an der juristischen Fakultät in Bordeaux ein. Dieses Diplom verschaffte ihm die für das Jurastudium unerlässlichen Lateinkenntinisse. Der Unterricht in Latein blieb an den Rechtsfakultäten wichtig, um die Absolventen des „Bac D‟, dem früheren modernen Abitur, von der Fakultät fernzuhalten. Diese wurden von den Professoren als eher mittelmäßig eingestuft, da sie keine historische Sprache gelernt hatten. Der Student Quoique unterschied sich jedoch von seinen Kommilitonen, von denen die meisten das berühmte „Baccalauréat Philosophie‟ besaßen. Aufgrund seines geringen Familieneinkommens und seiner vorbildlichen Zeugnisse gewährte imh der Dekan eine Befreiung von den Studiengebühren.
Mit gerade einmal 18 Jahren fand Jean Quoique eine Unterkunft in der Rue de Lamourous 20 in Bordeaux, von wo aus er in nur 15 Minuten zu Fuß zur Fakultät und ihrer Bibliothek gelangte. Diese Nähe nutzte er intensiv, denn er bestand seine erste juristische Prüfung mit sechs „weißen Kugeln‟ – dem bestmöglichen Ergebnis, das auch vom ersten Prüfer gelobt wurde – und erhielt die Auszeichnung für die Vorlesungen des ersten Jahres. Die Einführung der 20-Punkeskala im Jahr 1913 tat seinen ersten Erfolgen keinen Abbruch : So erzielte er in den Prüfungen des zweiten Jahres einen Durchschnitt von 20/20 und in den Licenceprüfungen 19,5/20. Zudem gewann er Auszeichnungen sowohl für Vorträge im zweiten als auch im darauffolgenden Jahr. Auch für Zivilrecht in den Jahren zwei und drei sowie für Strafrecht und Zivilprozessrecht erlangte Jean Auszeichnungen. Der junge Jean beeindruckte seine Lehrer immer wieder. Sie sahen in ihm das Paradebeispiel für den sozialen Aufstieg durch Bildung, ein Thema von zentraler Bedeutung für die Dritte Republik. Als Nachkomme von Zimmerleuten hatte er es tatsächlich geschafft, sich mit Söhnen der begabtesten Familien gleichzustellen und diese, wenn nicht sogar in ihren Leistungen zu übertreffen, als er am 25. Juli 1914 seinen Bachelor-Abschluss erhielt. Die Professorenschaft ehrte Quoique sogar als „verdienstvollsten Studenten‟ des Jahres 1914 und plante, ihn als Doktoranden aufzunehmen, wie eine Notiz in seiner Studentenakte belegt. Seit der Ermordung von Erzherzog Franz Ferdinand in Sarajevo war fast ein Monat vergangen. Die Studenten, die in einem Klima des Rachedurstes aufgewachsen waren und die Presse intensiv verfolgten, waren in heller Aufregung. Der Frieden wurde innerhalb weniger Wochen hinweggefegt, als Frankreich am 1. August in den Krieg eintrat. Jean Quoique, der seit 1913 einen Aufschub seiner Einberufung genossen hatte, wurde 1914 eingezogen und erhielt am 12. August den Befehl, sich den Truppen anzuschließen.
Der Soldat zweiter Klasse wurde in das 57. Infanterieregiment eingezogen, wo er eine grundlegende militärische Ausbildung erhielt. Später wurde er an die Front geschickt, um an der Schlacht an der Marne teilzunehmen. Dort erlebte Jean den Übergang vom Bewegungs- zum Stellungskrieg sowie die damit verbundenen unzähligen Verluste. Am Tag nach der Eroberung eines neuen deutschen Schützengrabens wurde er zum Aspiranten befördert, während aus den deutschen Stellungen Weihnachtslieder erklingen. Anfang des folgenden Monats wechselte er zum Infanterieregiment 144, wo er zwei Wochen lang unter feindlichem Beschuss an der Anlage neuer Gräben kämpfte. Nach einem kurzen Aufenthalt beim 34. Infanterieregiment erhielt er eine kurze Verschnaufpause, bevor er am 23. März 1915 zum 91. Regiment versetzt wurde. Am Morgen des 6. April wartete sein Regiment auf einen bevorstehenden Angriff, bei dem das Dorf Maizeray im Departement Meuse eingenommen werden sollte. Der Offizier, der das Marschtagebuch des Regiments führte, bemerkte, dass es an Artillerie zur Unterstützung der Operation fehlte, die fortan als „Demonstration, um, […] die Aufmerksamkeit und die Schläge des Feindes zu erregen‟ beschrieben wurde. Der Angriffsbefehl erfolgte um 14:30 Uhr, mit dem Ziel, um 15:33 Uhr zu beginnen. Jean Quoique kehrt nicht mehr in seine Unterkunft zurück. Quoique war der 29. Jurastudent aus Bordeaux, der seit Beginn des Kriegs gefallen war. In seiner Studentenakte findet sich ein Blatt, auf dem die Gegenstände aufgelistet sind, die seiner Familie übergeben wurden, darunter zwei Silbermedaillen und sein Bachelor-Diplom.
André Verdenal : Von der Befähigung zum Jurastudium zur Ehrenlegion
Die Geschichte von André Paul Adolphe Verdenal verdeutlicht, wie wenig akademische Leistungen mit menschlichen Qualitäten zu tun haben. André ist das jüngste Kind von Dr. Verdenal, einem Arzt im Krankenhaus von Pau, und Jehanne Massinot. Aus der ersten Ehe seines Vater stammt eine Tochter, Marie-Louise, die sechs Jahre älter ist als er. Aus der zweiten Ehe wurden seine Brüder Jean (1890) und Pierre (1893) geboren. André Verdenal erblickte ein Jahr später, am 1. August 1894, in Laruns das Licht der Welt, da sein Vater als Facharzt für Kurmedizin jeden Sommer aus beruflichen Gründen mit seiner Familie in den Kurort Eaux-Chaudes am Ufer des Gave d’Ossau reiste. Der Beruf ihres Vaters spielte in der Erziehung der Geschwister eine prägende Rolle, ebenso wie seine Liebe zur lothringischen Kultur, mit der Verdenal aufgewachsen ist. Andrés älterer Bruder folgte dem väterlichen Weg und ging nach Paris, um dort Medizin zu studieren. Sein Bruder Pierre begann ein Jurastudium und wurde später Anwalt. André selbst, als Fan von Literatur und Poesie, freundete sich mit dem amerikanischen Dichter Thomas Stearns Eliot an, mit trat mit ihm in einen Briefwechsel. Andrés Studienlauf war jedoch etwas chaotischer, was wahrscheinlich mit seiner schwachen Gesundheit zusammenhing. Wie seine beiden älteren Geschwister besuchte er das Gymnasium in Pau, schloss dieses jedoch ohne Abitur ab. Dennoch schrieb er sich im Januar 1913 an der Rechtsfakultät ein und begann ein Jurastudium. Da er eufgrund seines Gesundheitszustands nicht die erforderliche Studienzeit von mindestens einem Jahr vorweisen konnte, beantragte er beim Minister für öffentliche Bildung eine Ausnahmegenehmigung, um sich im Laufe des Jahres einschreiben zu dürfen. Das Studienformat der Kapazität, das seit der napoleonischen Zeit bestand und vor allem zur Ausbildung von Gerichtsvollziehern diente, wurde trotz einer umfassenden Reform im Jahr 1905 von den Lehrern noch immer wenig geschätzt. Dennoch begannen die Professoren Gustave Chéneaux und Louis Barde 1908, zwei Kurse speziell für Kapazitären anzubieten, die seit der Reform insgesamt zwei Jahre lang ausgebildet wurden. André Verdenal hatte ein atypisches Profil im Vergleich zu anderen Jurastudenten, da es einerseits relativ wenige Studierende ohne Abitur gab, und er andererseits, im Vergleich zu anderen Kapazitären, nicht aus einer bescheideneren Gesellschaftsschicht stammte. Es scheint, als habe Verdenal in Pau bei seiner Familie studiert, wo er auch auf die von seinem Bruder zusammengestellte Bibliothek zugreifen konnte.
Im Gegensatz zu den beiden juristischen Bakkalaureaten und der Licence, bei denen zwei Prüfungen pro Jahr abgelegt werden müssen, gab es bei der Kapazität nur eine einzige Prüfung. André Verdenal wurde bei der ersten Kapazitätsprüfung zurückgestellt. Bei der zweiten Prüfung erhielt er ein „passabel‟, wurde aber bei der dritten Prüfung erneut zurückgestellt. Er hatte sein Können also noch nicht beweisen können, als die Stunde der allgemeinen Mobilmachung schlug, durch welche er etwas später als seine Kameraden des Jahrgangs 1913 oder früher eingezogen wurde. Dennoch wartete Verdenal wahrscheinlich nicht ohne eine gewisse Ungeduld auf diesen Moment. Seine beiden Brüder hatten sich bereits vor dem Krieg gemeldet, der erste als Militärarzt und der zweite bei der Infanterie. Für die Brüder Verdenal, die aus Lothringen stammen, hatte dieser Krieg eine besondere Bedeutung, da er für sie nicht nur eine militärische Auseinandersetzung, sondern auch den Wunsch, ihre Wurzeln und ihre Identität zu vertidigen, bedeutet. André Verdenal wurde schließlich am 1. September 1914 eingezogen und trat dem 18. Infanterieregiment bei, dem auch seine beiden Brüder angehörten. Dennoch wurden sie nicht alle drei vereint, da Pierre seit dem 16. September während der Schlacht an der Marne vermisst wurde und bis 1918 als Gefangener in der Schweiz blieb. Als der Soldat André Verdenal an die Front geschickt wurde, traf er jedoch auf seinen Bruder Jean, der dort als Hilfsarzt arbeitete. Bereits Anfang November folgte die Beförderung zum Gefreiten. Die beiden Brüder wurden erneut getrennt, als Jean Ende Februar 1915 zum 175. Infanterieregiment kam, das gerade erst aufgestellt worden war. Der junge Arzt nahm an der Dardanellen-Kampagne teil, bei welcher er seinen Vorgesetzten wegen seiner Selbstlosigkeit auffiel. Anfang Mai 1915 wurde er während der Behandlung eines Verwundeten getötet. Gerade als der Gefreite Verdenal die schreckliche Nachricht erfahren hatte, wurde er auf die Spuren der Dardanellen-Kampagne seines Bruders in den Orient geschickt. Bereits im Juni wurde Verdenal wegen seiner Tapferkeit als Verbindungsmann zum ersten Mal in der Regimentsordnung erwähnt, woraufhin er noch am selben Tag zum Sergeanten befördert und mit dem Kriegskreuz ausgezeichnet wurde. Er blieb zunächst noch an der Ostfront, wo die alliierten Armeen zwischen Rückzügen und Bombenangriffen besonders schwer zu kämpfen hatten und kehrte erst 1916 zum 18. Infanterieregiment zurück. Dort nahm er an den Schlachten von Verdun, Argonne und der Somme teil, bevor er 1917 zum 120. Infanterieregiment vorübergehend zum Unterleutnant befördert wurde und dort bis 1918 kämpfte. Am 15. August wurde André Verdenal bei einer Aufklärungsmission über neu eroberte Linien durch einen Schuss in die Brust tödlich verwundet. Er wurde mit dem nächsten Krankenwagen in das Saint-Vincent-de-Paul-Krankenhaus in Montmirail gebracht und verstarb dort an den Folgen seiner Verletzungen. Verdenal war der 75. Jurastudent aus Bordeaux, der bei den Kämpfen des Ersten Weltkriegs ums Leben kam. In Anerkennung seiner Tapferkeit wurde Unterleutnant Verdenal posthum zum Ritter der Ehrenlegion geschlagen, wie es bei vielen anderen Soldaten der Fall war. Aus seiner Universitätsakte erfahren wir jedoch, dass die Universität auch diejenigen ihrer Studenten „belohnen‟ konnte, die ihr Vaterland mit größter Tapferkeit verteidigt hatten. Neben den Dokumenten über André Verdenals kurze Zeit bei den Kapazitären in Bordeaux, enthält seine Mappe die Kopie eines Schreibens, das 1919 an das Rathaus der Stadt Pau, in der sich der Wohnsitz der Familie befindet, geschickt wurde. In diesem Schreiben übermittelte der delegierte Dekan Léon Duguit das dem ehemaligen Studenten verliehene Bachelor-Diplom.
Kevin Brémond, Doktor der Rechtsgeschichte (Uiversität Bordeaux)
Literatur
Boulanger Philippe, « Les conscrits de 1914. La contribution de la jeunesse française à la formation d’une armée de masse », Annales de démographie historique, n°103 (2002), pp. 11-34.
Crépin Annie, Histoire de la conscription, Éditions Gallimard, 2009.
Hiver Jean l’, Le Beau Sacrifice, S. Pacteau, 1915.
Loez André, « Militaires, combattants, citoyens, civils : les identités des soldats français en 1914-1918 », Pôle Sud, n°36 (2012), pp. 67-85.
Malherbe Marc, La faculté de droit de Bordeaux : 1870-1970, Talence, France, Presses universitaires de Bordeaux, 1996.