Erste Ansätze einer rechtswissenschaftlichen Lehre in Bordeaux entwickeln sich bereits im 4. Jahrhundert mit dem bekannten Auditorium undden Vorlesungen von Ausone (ca. 310-394 n. Chr.). Dennoch dauert es noch lange, bis die Stadt ihre erste offizielle Universität eröffnet. In der florierenden Hafen- und Handelsstadt wird die Rechtslehre erst im fünfzehnten Jahrhundert in der Universitas Burdigalensis eingeführt. Fast 350 Jahre lang bleibt ihre Struktur im Wesentlichen weitgehend unverändert, bevor sie durch die Revolution hinweggefegt wird. In der Stadt wirkten eine Reihe von renommierten Anwälten und Juristen wie Nicolas Boerius (1469-1539), Bernard Herbst (1574 ?-1666), Étienne Cleirac (1583-1657), Abraham Lapeyrère (1598 ?-1690 ?), oder der berühmte Parlamentarier und Baron von La Brède Charles Louis de Secondat, oder auch Montesquieu (1689-1755).
In Bordeaux wie in anderen Städten führt die Revolution von 1789 zum Verschwinden des Rechtsunterrichts. Am 22. Ventôse des 12. Jahr des französischen Revolutionskalender (13. März 1804) wird die Rechtslehre per Gesetz wieder zugelassen. Nur ein Paar Tage später wird das Code Civil des Français (französisches Bürgerliches Gesetzbuch) verkündet. Es ist anzumerken, dass die Lehrkräfte aufgefordert sind, den Code einzuhalten. Darüber hinaus legt ein Dekret vom 21. September 1804 die Liste der zehn Städte fest, in die diese neue Fakultäten gegründet werden. Ein Name fehlt auf der Liste : Bordeaux. Für dieses „Vergessen“, das als Rache interpriert wird, werden mehrere Gründe angeführt : Erstens gibt es die auf dem 17. Jahrhundert zurückkommende Widerspenstigkeit der Stadt gegenüber der Monarchie (Periode der Fronde), zweitens die Parteinahme für England, und schließlich ihren erbitterten Widerstand gegen den Bergpartei während der Revolution. Nichtsdestotrotz hegte Bordeaux das ganze 19. Jahrhundert über die Hoffnung, eine Rechtsfakultät errichten zu können und tat alles, was in ihrer macht lag, um dies zu ermöglichen.
Doch war der Weg dahin alles andere als einfach. Allzu oft wurden diese Hoffnungen enttäuscht.
I. Die verlorenen Hoffnungen
Nach Abschaffung der zwei juristischen Fakultäten von Bordeaux – die eine für kanonisches Recht, die andere für Zivilrecht – fängt eine Opposition an, sich zu organisieren, als 1804 festgestellt wird, daß das Dekret zur Gründung der Fakultäten die Stadt beiseite läßt. Die Bewegung wird von den zwei Anwälten Joseph-Henri Lainé (1768-1835) und Philippe Ferrère (1767-1815) geleitet. Für sie ist es undenkbar, dass in eine Stadt wie Bordeaux eine so Edle Disziplin wie die des Rechts in den Fakultäten nicht vertreten ist. Die Regierung kann zwar nicht überzeugt werden, das Rathaus hingegen hört aufmerksam zu.
In dieser Periode großer Veränderungen für Frankreich erweist es sich jedoch schwierig, einen Gesprächspartner zu finden. Der rasche Wechsel von Regimen, und damit von Ideologien und Politiken in Bereich Hochschulbildung und ihre Entwicklung, ist ein seriöses Hindernis.
Dabei fehlt es nicht an Möglichkeiten, nur wird das Ziel immer wieder knapp verpasst. So zum Beispiel 1838 mit der Nominierung Salvandry (1795-1856) als Bildungsminister, der sich für ein dichteres Universitätsnetz in Frankreich einsetzen wird. Ihm verdankt die Stadt noch im selben Jahr die Eröffnung einer geistes- und einer naturwissenschaftlichen Fakultät. Doch wird Salvandry bald ersetzt. Sein Nachfolger teilt seine Vision nicht und die Hoffnungen und Ansprüche der Hauptstadt der Gironde auf ihre juristische Fakultät werden abrupt enttäuscht.
1840 taucht die Hoffnung wieder auf : Villemain (1790-1870), einen Freund Salvandrys, übernimmt die Leitung des Erziehungsministeriums. Er lässt die schwindende Idee einer wahrscheinlichen Eröffnung entwischen, was im Milieu der Juristen Bordeaux eine kräftige Aufregung auslöst : Petitionen werden von der Notarkammer und dem Rat der Anwaltskammer lanciert, und die Gewissheit herrscht, dass dies der letzte Schritt zur Erreichung dieses langerträumten Ziels sein wird. Die Stadt macht ihr Möglichstes und ruft eine Kommission ins Leben, um dieses Projekt voranzutreiben. Doch auch dieses Mal wird das Projekt auf Hürden stoßen und in Vergessenheit geraten. Der Grund dafür ? Diese neue juristische Fakultät hätte die bereits bestehenden Fakultäten von Toulouse und Poitiers in den Schatten gestellt…
So unerschütterlich die Motivation in Toulouse war, schwindet sie letztlich aufgrund dieser wiederholten Fehlschläge. Hinzu kommt, dass in der autoritären Phase des Zweiten Kaiserreichs andere, dringlichere Anliegen priorität haben und die Stadt zwingen, ihr Projekt zu verschieben. Zumal ihre zögerliche Unterstützung für das Imperium die Stadt als verdächtig erscheinen lässt. Zu der Zeit werden Menschen beim kleinsten Verdacht der Ungehörsam vom Präfekt Haussmann (1809-1891) verbannt. Auch wirkt sich die zunehmende institutionelle Desorganisation in Bordeaux negativ auf die Verwirklung des Projekts einer neuen Rechtsfakultät aus.
1864, als Henri Bochon (1810-1974) zum Bürgermeister wird, kommt ein neuer Atemzug und sehr bald schließt sich der Akademische Rat dem Antrag der Gemeinde an. Daraufhin wird auch die Unterstützung des Départementsrats zugesichert. In einem Bericht unterstreicht Émile Fourcand (1819-1881), der später Bürgermeister von Bordeaux wird, die Diskrepanz zwischen den zahlreichen Juristen in Bordeaux und das Fehlen eines Orts der juristischen Ausbildung in der Stadt selbst. Ergebnis ? Erneute kategorische Ablehnung seitens des Ministeriums.
Im Kontext einer Liberalisierung des Regimes wird 1867 erneut einen Antrag gestellt, der die Zustimmung des neuen Rektor Charles Zevort (1816-1887), dem Anliegen positiv gestimmt, erhalten soll. Dieser ist überzeugt, dass eine solche Fakultät für die Stadt Vorteilhaft wäre, und rekrutiert daher fünf Rechtsanwälte, um zwischen 1869 und 1870 öffentliche und kostenlose Vorlesungen zu geben. Der Stadtrat ist sich dieser Fortschritt auf dem Weg der neuen Fakultät bewusst und nimmt diese Vorlesungen unter seine Schirmherrschaft.
Gleichzeitig beauftragt die Stadt einen neuen, umfassenderen Bericht, der mit größerer Schärfe auf die vom Erziehungsminister geäußerten Bedenken reagiert. Die ergebnissen werden am 5. Februar 1869 vorgestellt. Diesmal werden die genauen Bau- und Betriebskosten sowie die kurzfristigen Rentabilitätsaussichten beziffert. Wie andere Kandidatinnen für eine juristische Fakultät nimmt Bordeaux als Vorbilder Städte, die kleiner sind, aber dennoch Gewinne erzielen – wie es in Douai schon seit dem ersten Betriebsjahr der Fall ist. Kurz gesagt, die Fakten werden abrupt und trivial dargestellt, aber die Argumente scheinen überzeugend zu sein. Die Abgeordneten – insbesondere Amédée Larrieu (1807-1873) dem heute ein Platz der Stadt gewidmet ist – sind überzeugt, dass die Umstände jetzt günstig für sie sind und dass die ersten Vorlesungen ein echtes Argument darstellen. Sie gehen in der Offensive in der Pariser Instanzen, damit das Projekt endlich grünes Licht bekommt.
Das letzte Hindernis, das sich ihnen in den Weg stellt, liegt nun in der Person des Ministers, der auch Dekan der juristischen Fakultät von Poitiers ist… Angesichts dieser unglücklichen Tatsache sehen sich die Antragsteller gezwungen, den Minister an der Trennung zwischen der persönlicher und das allgemeine Interesse zu erinnern. Aus ihrer Sicht macht letzterer die Eröffnung der lang ersehnten Einrichtung zwingend erforderlich. Das Schicksal und die politische Instabilität werden den Dekan aus Poitiers durch einen anderen ersetzen, der ein offeneres Ohr haben wird.
Aus Furcht, dass diese aufscheinende Möglichkeit schnell wieder verfliegt, beschließt die Stadt, sie gewissermaßen im Stein zu meißeln : Bordeaux verpflichtet sich feierlich und offiziell, auf eigene Kosten das Grundstück für den Bau der Fakultät zu erwerben, auf eigene Kosten die für den Bau des Gebäudes notwendigen Arbeiten durchzuführen und alle Betriebskosten, einschließlich Personalkosten, zu übernehmen.
Am 25. April 1870 schreibt Rektor Zevort an den Bürgermeister von Bordeaux und informiert darüber, dass das Vorhaben bei der Regierung an Glaubwürdigkeit gewinnt. Die Stadt ist in Aufruhr und die Verpflichtungen, die sie auf sich nimmt werden immer größer, fast exzessiv. Am 11. Juli 1870 beschließt der Stadtrat formell, zusätzlich zur übernahme der Bau-, Unterhalts- und Personalkosten, den Überschuss ihres Betriebshaushalts während 12 Jahren (sic !) an den Staat zu überweisen – um es anderen Städten mit ähnlichen Ansprüchen gleichzumachen.
Diesmal scheint der Antrag gut aufgestellt. Endlich sieht die Stadt nach einem halben Jahrhundert des Wartens das Licht aufgehen. Doch ist das Schicksal bekanntlich unberechenbar und entscheidet anders : die Schlacht von Sedan bricht aus und verursacht den Untergang des Imperiums. Am 4. September 1870 wird die Republik ausgerufen, weniger als zwei Monate nach dem Höhepunkt eines Antrags, das kurz davor war, endgültig vom vorherigen Regime bewilligt zu werden. Das Projekt ist also wieder stillgelegt.
Doch dieses Mal hat die Hauptstadt der Gironde Glück im Unglück : Eine Delegation der Regierung der nationalen Verteidigung flüchtet sich ab Ende September nach Bordeaux. Vielleicht hat es hierdurch zu Diskussionen mit den lokalen gewählten Vertretern geführt. Jedenfalls ist es irgendwie gelungen Jules Simon (1814-1896), der damals in Paris blieb, von der Notwendigkeit der Eröffnung dieser Fakultät zu überzeugen. Die Legende besagt, dass das Dekret vom 15. Dezember zur Gründung der Fakultät per Ballon von Paris nach Bordeaux gesendet wurde, als die Hauptstadt von den Preußen belagert ist.
Im Hintergrund wirkt sich das Trauma der militärischen Niederlage auf die Universitätsorganisation aus. Bereits 1867 betonte Ernest Renan (1823-1892) die Bedeutung, die eine Nation ihren Universitäten beimisst, indem er auf den Sieg Preußens über Österreich hinwies, der durch seine wissenschaftliche Überlegenheit ermöglicht wurde. 1870 schließen sich viele Intellektuelle sich der Position Renans an : für sie sind die reichen und mächtigen deutschen Universitäten der Grund für den französischen Debakel. Louis Liard (1846-1917) sieht darin sogar das Zeichen für den Aufbau eines deutschen patriotischen Geistes, der von der Verbreitung der Wissenschaft geprägt ist. Und so wird in Frankreich die Frage der Reform der Fakultäten nicht mehr nur eine Wissenschaftliche Frage, sondern eine Frage der Kohäsion innerhalb der französischen Bevölkerung, die es wiederzufinden und zu verstärken gilt.
In diese Sinne war die Schlacht von Sedan ein Katalysator des Unbehagens der französischen Eliten gegenüber den deutschen Wissenschaften. Zurückblickend ist offensichtlich, dass der Wunsch eines Wiederaufbaus der Universitäten und einer Diversifizierung der Fakultäten auch der Zweck hatte, ihnen Größe und Würde zurückzugeben, um daraus gegenüber dem Sieger von 1870 einer Art moralischen Rache zu ziehen.
Unabhängig von den oben genannten Ursachen ist Bordeaux nun virtuell berechtigt, seine Fakultät zu eröffnen. Es fehlt dieser Institution nur noch, dies durch die Errichtung eines handfesten Gebäudes umzusetzen.
II. Ein chaotischer Bauprozess
Ab 1869 beginnt die Stadt, über einen Standort für ihre geplante Fakultät nachzudenken. Es kommen mehrere Orte in Frage, und es schließlich wird ein Bereich auf dem Pey-Berland-Platz, gegenüber der Kathedrale, gewählt. Kurz darauf beginnen die Bauarbeiten, praktisch unmittelbar nach dem Dekret vom Dezember 1870.
Wie geplant nützt die Stadt ihre eigenen Mittel, um die Arbeiten zu finanzieren und wird dabei vom großzügigen Charles Fieffé de Lièvreville (1791-1857) unterstützt, der der Stadt Bordeaux bei seinem Tod 600.000 Francs hinterließ, davon 300.000 in Form von Immobilienvermögen. In dieser Hinsicht war das finanzielle Opfer Bordeaux’ nicht wirklich eines. Im Mai 1871 schlägt der Architekt Charles Burguet (1821-1879) Pläne und einen Kostenvoranschlag vor, die sofort angenommen werden. So beginnen die Arbeiten schon im August desselben Jahres.
Parallel dazu werden im Rahmen dieser neuen Fakultät vorläufige, aber offizielle Vorlesungen abgehalten. Ehe die Räumlichkeiten Bezugsfertig sind, werden die Vorlesungen in den unterschiedlichen verfügbaren Sälen der Stadt verteilt. Dabei wird langsam einen weiteren Haken immer deutlicher : Der Bau ist für eine maximale Kapazität von 300 Personen geplant, doch gibt es bereits mehr als 200 eingeschriebenen Studenten. Der Bau wird daher gestoppt, um den Architekt Charles Burguet Zeit zu geben, an neuen Plänen zu arbeiten, die dieser am 16. Dezember 1871 liefert. Nachdem die administrativen Hürden überwunden sind, treten bautechnische Schwierigkeiten auf : Das Gebäude befindet sich auf einem sumpfigen Gelände, da es sehr nah am Peugue liegt, einem Bach, der durch die Stadt verläuft. In den neuen Plänen wird das Gebäude um eine Etage höher. Weil es das gesamte Gebäude belastet, müssen die Fundamente fester stabilisiert werden, was den Unternehmern das Recht einräumt, ihre Ausschreibungen wegen den zusätzlichen entstehenden Kosten zu kündigen.
Diese Schwierigkeiten verzögeren das Projekt, und am 8. März 1872 nutzt die Haushaltskommission der Nationalversammlung dieser Grund, um die Rechtsfakultät von Bordeaux ganz einfach zu streichen, obwohl seit bereits zwei Jahren Vorlesungen abgehalten. Dank dieses letzten Arguments nimmt die Kommission diese unglückliche Entscheidung zurück.
Wohlwissend, dass das Projekt im Gefahr ist, beschließt die Stadt, den Bau des Gebäudes dringend wieder aufzunehmen und mit den Handwerkern über Erhöhungen zu verhandeln. Alle stimmten zu, außer einem (die Fall wurde jedoch durch die Annahme eines Kompromisses vor Gericht fünf Jahre später geklärt). Die Bauarbeiten werden wieder aufgenommen, allerdings mit einem stark erhöhten Kostenvoranschlag – von ursprünglich 150 000 auf nun 208 000 Francs.
Nach diesen vielen Zwischenfällen werden die Bauarbeiten schließlich problemlos abgeschlossen, und die endgültige Abnahme erfolgt am 11. August 1874. Dabei muss noch eine kleine Besonderheit hervorgehoben werden : Die Einweihung fand bereits am 20. November 1873 statt. Und die Rede des Dekan Couraud (1827-1892) ist lang, viel zu lang. mit lateinischen Referenzen gespickt, so dass es eher einer Vorlesung ähnelt. Dennoch ist die Absicht gut : Er fordert die Eröffnung neuer Lehrstühle und demonstriert deren dringende Notwendigkeit. Doch gerät er in einer lyrischen Stimmung, und über einen Exkurs zur Rechtsgeschichte, beginnt er, philosophische Fragen zu stellen wie : „Was ist das Gesetz ?“ die er selbst antwortet, was seinen Zuhörer und Zuhörerinnen, zunehmend ungeduldig macht.
Von außen sieht die Rechtsfakultät prächtig aus und wird in den Zeitungen gelobt. Innen ist das Gebäude viel schlichter, um nicht zu sagen trostlos : Bei der Ankunft des Ministers im Jahr 1876 ist keine Verschönerung vorhanden. Der Bildhauer Dumilâtre (1844-1928) – Autor des Denkmals der Girondins, das am place des Quinconces steht – wurde zwar für eine Statue angesprochen, aber daraus folgte nichts. Der Dekan beschwert sich darüber beim Direktor der Hochschulbildung am Bildungsministerium, der ihm in einem Anflug der Großzügigkeit zwei Statuen gewährt : eine von Montesquieu, die andere von Cujas. Auch hier fehlt die Geschichte nicht an Ironie : Die Statuen wurden nicht gleichzeitig geliefert und man musste im Nachhinein feststellen, dass keine Sockel vorgesehen wurden, um sie aufzustellen : Die beiden Büsten liegen also auf dem Boden… bis 1882 !
III. Ein stürmisches Universitätsleben
Diese langerwartete, ersehnte und erhoffte Fakultät muss das neue Aushängeschild der Universität in Bordeaux sein, und dies umso mehr nach den durch die Planänderungen entstandenen Mehrkosten. Denn die Stadt, die die gesamten Kosten getragen hat, sieht sich in der Pflicht, ihren Steuerzahlern zu zeigen, dass dieses Geld vernünftig ausgegeben worden ist. Die Presse spielt dabei eine wichtige Rolle. Die Zeitungen loben dieses majestätische Gebäude, das stolz der Kathedrale auf dem Pey-Berland-Platz gegenübersteht. Aber auch der praktische Mehrwert der Fakultät muss demonstriert werden, was anhand von Statistiken zur Nutzung der Bibliotheken oder über der Fleiß der Studenten illustriert wird.
Letzteres steht jedoch in Widerspruch zur Wiedereintrittsrede vom Dekan Couraud. In der Tat beklagt er sich über eine starke Abwesenheitsquote im Unterricht – Abwesenheit, die durch die etwas trockenen Exegese-Vorlesungen, die damals stattfinden, vielleicht erklärt werden kann. Nichtsdestotrotz begrüßt er die guten Leistungen der Studenten, nicht jedoch ohne zu betonen, dass sie viel besser sein könnten, würden sie die Vorlesungen der Universität regelmäßig besuchen. Es ist übrigens interessant zu bemerken, dass einer der Gründe für die Unterstützung des Baus dieses neuen Bildungsortes, die Möglichkeit für die Studenten war, ihren Familien nah zu bleiben und ihnen so das teure Leben in Paris zu ersparen, zumal die Hauptstadt auch als die Stadt aller Laster gilt. Und so scheinen die Studenten, denen man den langen Weg nach Paris ersparen wollte, sich nicht einmal mehr die Mühe zu machen, sich bis zum Pey-Berland-Platz zu bewegen !
Die junge Rechtsfakultät kennt aber auch in der Lehre Unwägbarkeiten. 1876 kreiert die Geisteswissenschaftliche Fakultät Bordeaux einen Lehrstuhl für Geographie, was damals eine innovative Entscheidung ist. Darüber hinaus, und zusätzlich zu den in 1886 bereits unterrichteten Disziplinen, wird die Lehre um andere Gebiete ergänzt, wie Kunstgeschichte oder Archäologie, die fortan nicht mehr der Geschichte unterordnet werden. Auch die Psychologie und die Soziologie, ihrerseits sich von der Philosophie emanzipierend, sind später an der Geisteswissenschaftlichen Fakultät beheimatet.
Der Anstoß zu dieser Debatte kommt von Emile Durkheim (1858-1917), nach seiner ersten Vorlesung zur Sozialwissenschaft 1888. Wer von der Geisteswissenschaft oder dem Recht soll diese neue Wissenschaft beherbergen ? Diese heikle Kontroverse findet ihren Höhepunkt, während des Fakultätsrates vom 17. Juli 1888. Geführt wird sie vom Dekan der Rechtsfakultät Gabriel Baudry-Lacantinerie (1837-1913) und vom Dekan der Philosophischen Fakultät Alfred Espinas (1844-1922). Während dem Treffen heißt es unter anderem : “Der Dekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät weist darauf hin, dass die Sozialwissenschaft ihr Definition und ihrem Wesen nach ausschließlich in den Bereich der Rechtswissenschaften fällt. Der Dekan der Philosophischen Fakultät betont im Gegenteil den Unterschied zwischen der Wissenschaft der Gesellschaften und der Kunst des Juristen”. Schließlich haben die Geisteswissenschaften das letzte Wort.
Hinter diesem Streit steckt eine unausgesprochene Konkurrenz, von der wir an der Sorbonne Echo finden können : Die gleiche Art von Zwietracht tritt dort auf, und die Hauptmotivation der Juristen, sich die Materie anzueignen, ist nichts anderes als ihr Durst, die Sozialwissenschaften vollständig dem Recht zu unterwerfen ! Als Beweis dafür dürfte es reichen, daran zu erinnern, daß ab dem Zeitpunkt, da die Geisteswissenschaftliche Fakultät von Paris sich dagegen entscheidet, die Soziologie zu integrieren, seitens der juristischen Fakultät keine Ansprüche mehr an einem Lehrstuhl dieser Disziplin gestellt werden.
Dennoch gibt es sehr wohl, und zwar von beiden Gebieten aus, die Interesse an einer Begegnung des Rechts und der Soziologie. Dies wird erst durch den Implus Durkheims umgesetzt, der in seiner Antrittsrede die Juristen nachdrücklich einlädt, an seiner Vorlesung teilzunehmen. Bei der Versammlung der Rechtsfakultät vom 9. Dezember 1887 weist Léon Duguit (1859-1928) – übrigens ein Freund Durkheims – darauf hin, dass der Stundenplan des Soziologen mit einem anderen juristischen Kurs kollidiert, es sei daher notwendig, einen Kompromiss zwischen den beiden Fakultäten zu finden, um diese Überschneidung zu vermeiden, ohne dass das heißen müsse, die sozialwissenschaftliche Vorlesung sei der Rechtswissenschaft unterordnet. Der Fakultätsrat von 1889, berichten von Erfolg der Annäherung der Fakultäten : Sowohl Jurastudenten als auch Professoren besuchen die Vorlesungen Émile Durkheims.
Schließlich kommt die räumliche Problematik erneut ins Spiel. 1898 weist der Dekan darauf hin, dass das Gebäude etwas eng geworden ist. 1899 werden die Klausuren, die seit der Eröffnung der Fakultät aufbewahrten waren, vernichtet, um Platz zu schaffen. Die Stadt muss erneut mit dem Erwerb von Räumlichkeiten in der Nähe der Fakultät beginnen, um sie zu erweitern : Es wird vorgeschlagen, das angrenzende Gebäude an der Ecke der Rue du Commandant-Arnould und des Place Pey-Berland zu erwerben, was jedoch erst 1907 konkretisiert wird. Da es noch zu eng ist wird die Cabirol-Straße in den Betracht gezogen, jedoch ist dieser Wahl mit einigen Komplikationen verbunden. Denn der gesamte Straßenzug gehört der Kirche, und den Nachweis eines öffentlichen Nutzens notwendig ist, um ein Enteignungsverfahren einleiten zu können. Das Dekret dafür kommt erst 1910 und die Gebäude in der Rue Cabirol können 1911 vom Rathaus erworben werden. 1913, beginnen die Bauarbeiten, die vom Ersten Weltkrieg unterbrochen und erst 1920 wieder aufgenommen werden.
Auch wenn die Rechtsfakultät Bordeaux nicht ein Kriegsgebiet im wörtlichen Sinne ist, ist ihr Errichtung ein langer Kampf mit den Institutionen und politischen Akteuren gewesen. Es muss mit den sukzessiven Regierungen, mit den Unternehmern, den Fakultätsdekanen kämpfen und sich sogar in einen kostspieligen Kampf gegen das Fluss Peugue begeben ! Dies ist nur ein Vorgeschmack des inneren Kampfes, den diese Institution angesichts des großen Konflikts von 1914 wird durchmachen müssen.
Alexandre Frambéry-Iacobone, A.T.E.R. (Lehrbeauftragter), IRM-CAHD (Universität Bordeaux)
Literaturangaben
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Malherbe Marc, La faculté de droit de Bordeaux : 1870-1970, Talence, France, Presses universitaires de Bordeaux, 1996.
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