Die Universität Lille und ihre juristische Fakultät im Ersten Weltkrieg


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Sommer 1914  : Die Kriegserklärung

Noch vor dem Semesterbeginn im November sind es die Französisch-Sommersprachkurse für ausländische Studierende, die als erste durch den Kriegseintritt gestört werden. Die Sommerschule bestand aus zwei Kursen, einem im Juli und einem im August, und fand in Boulogne-sur-Mer statt. Für die Kurse im Sommer 1914 sind 216 Studenten eingeschrieben. Der Unterricht umfasste Literatur, französische Zivilisation, Phonetik, Grammatik, Stil, Lesen, Konversation und Übersetzung. Von den 143 Studenten, die im Juli eingeschrieben waren, waren 69 Engländer, 35 Deutsche, 14 Russen, 7 Österreicher, 5 Ungarn, 4 Schweden, 2 Holländer, 2 Kanadier, 2 Franzosen, 1 Amerikaner, 1 Kolumbianer und 1 Finne. Der Sekretär der Patronatsgesellschaft für ausländische Studenten, der nach Ende des Konflikts seinen Bericht für den Sommer 1914 verfasste, erinnerte sich an den Krankenhausaufenthalt eines deutschen Studenten, dessen Kosten im akademischen Jahr 1913-1914 von der Gesellschaft bezahlt worden waren. Der Präsident dieser Gesellschaft hatte sich an sein Bett begeben, um ihm Erdbeeren zu bringen. In seinem Bericht fragt sich der Sekretär, ob dieser Student die Kämpfe überlebt hat. Am Kurs im August nahmen nur 26 Studierende teil. Viele sagten ihre Teilnahme ab, und ein Teil der Lehrkräfte wurde mobilisiert. Vor allem deutsche, österreichische und ungarische Studenten mussten voreilig in ihre Heimatländer zurückkehren. Es zeigt sich also, dass der internationale akademische Austausch vor dem Konflikt dynamisch war und der Kriegseintritt die friedlicheren Praktiken erschüttert.

Die Universität Lille während der Besatzung

Lille wurde ab Oktober 1914 besetzt, nachdem es während der Belagerung schreckliche Bombenangriffe erlitten hatte. Die Stadt bleibt vier Jahre lang vom Rest des Landes abgeschnitten. Die Universität befindet sich während des gesamten Krieges in einer ganz anderen Situation als die übrigen Universitäten Frankreichs. Dies hat einerseits mit den vom Besatzer auferlegten Konditionen zu tun, und andererseits mit der Tatsache, dass dort die Studenten nicht mobilisiert werden : Die jungen Absolventen des Baccalauréat bleiben ab Herbst 1915 in Lille.

Einigen Professoren gelingt es, vor Beginn der Besetzung nach Lille zurückzukehren. Andere jedoch, die in anderen Regionen Urlaub gemacht hatten, können nicht zurückkehren Die im Herbst 1914 mobilisierten oder mobilisierbaren Personen, die noch nicht in den Krieg geschickt worden waren, wurden evakuiert, da man befürchtete, dass sie von der deutschen Armee zwangsrekrutiert werden würden. Auch ein Teil des Universitätspersonals ist betroffen. Viele der Studenten, die den Sommer in Lille verbracht hatten, können jedoch nicht rechtzeitig fliehen.

Ab Herbst 1914 muss sich die Rechtsfakultät aufgrund der Mobilisierung eines Teils des Lehrkörpers neu organisieren. Es sind nur noch 4 von 16 Professoren sowie 14 Studenten übrig. Eustache Pilon, Dekan der Fakultät, wird mobilisiert. Zu Beginn der Besatzung werden die Räumlichkeiten der Fakultät von der deutschen Armee beschlagnahmt.

Die restlichen vier Professoren teilen sich die Vorlesungen : Louis Vallas lehrt Zivilrecht, Jules Jacquey Völkerrecht und Verfassungsrecht, Paul Collinet, Professor für Römisches Recht, kümmert sich auch um die Vorlesung in Rechtsgeschichte, während Charles Mouchet einen Teil der Vorlesungen für Römisches Recht übernimmt. Die Mitglieder der Fakultät, die sie im Universitätsrat vertreten (der Dekan sowie Albert Schatz), müssen ersetzt werden. René Demogue, Beisitzer des Dekans, wird am 1. November nach Paris versetzt. Collinet und Mouchet werden in den Universitätsrat gewählt und ein Präfekturerlass ernennt Mouchet zum Beisitzer des Dekans.

Nach einer Zeit des Schreckens und der Ungewissheit werden die Vorlesungen im Februar 1915 wieder aufgenommen. Die Vorlesungen der Rechtswissenschaftlichen Fakultät finden in den Räumlichkeiten der Literaturwissenschaftlichen Fakultät statt. Während des Jahres 1914‑1915 werden trotz den Umständen Prüfungen abgehalten. In dem Bericht wird betont, dass die Prüfungskommission angesichts der schwierigen Studienbedingungen und der durch die Situation erzeugten Angst Nachsicht mit den Kandidaten zeigte. Der nächste Semesterbeginn fand am 3. November 1915 statt, was damals dem normalen akademischen Kalender entsprach. Die Professoren wollen die Kontinuität der Lehre gewährleisten. Als Hauptargument wurde vorgebracht, dass selbst eine minimale Fortsetzung des Unterrichts die Wiederaufnahme des Unterrichts erleichtern und die Zukunft der Institution sichern würde. Es wird auch ein moralisches Argument angeführt : Man befürchtet die Auswirkungen des Müßiggangs auf die jungen Abiturienten, die nicht mobilisiert wurden. Die Aufrechterhaltung eines „französischen“ intellektuellen und kulturellen Lebens erscheint außerdem als eine Form des Widerstands gegen die Besatzer. Der Jahresbericht verzeichnet auch einen Zustrom von Studentinnen der Natur- und Geisteswissenschaften, die Lehrerinnen oder Professorinnen werden wollen.

Die Zahl der Studierenden an der Fakultät steigt im Jahr 1915‑1916 auf 31 Studierende an. Es gibt weiterhin nur vier Professoren. Drei Rechtspraktiker erklären sich bereit, zusätzliche Vorlesungen zu halten : François Henri Dejamme, Richter am Zivilgericht, unterrichtet Zivilrecht, Henri Dieudonné Prudhomme, ebenfalls Richter, unterrichtet Strafrecht und ein Mann namens Labbe, Rechtsanwalt, unterrichtet Handelsrecht.

So nehmen die Vorlesungen wieder auf, aber der Krieg ist immer noch im Alltag präsent und der Betrieb der Universität erweist sich als schwierig. Professor Alphonse Malaquin, Autor des Jahresberichts über die Situation der Hochschulbildung in Lille, berichtet folgendes :

„ Die Stadt befindet sich in unmittelbarer Nähe der Kampflinie, da die Schützengräben nur wenige Kilometer von der Stadt entfernt sind, und sie hört häufig den Aufprall der Schlacht, manchmal schlagen sogar Geschosse in den Stadtvierteln ein ; Flugzeuge fliegen über sie hinweg, liefern sich Kämpfe und werden von einer intensiven Kanonade begrüßt ; Konvois, Truppen und Fahrzeuge durchkreuzen ihre Straßen und erinnern den Geist, der der Besessenheit und dem Anblick des Feindes entkommen möchte, an die Tatsachen der Realität.  “

Die materiellen Nöte sind groß, denn die Räumlichkeiten der juristischen Fakultät werden von der deutschen Militärpost beschlagnahmt, einschließlich der Sitzungssäle und dem großen Hörsaal. Das Laboratorium des Instituts für Physik wird einem deutschen Offizier zur Verfügung gestellt, und das pharmazeutische Labor wird von der deutschen Armee für chemische Forschung beschlagnahmt. Auch das Krankenhaus Saint-Sauveur wird beschlagnahmt. Die Aktivitäten der juristischen Fakultät werden in die Räume der Literaturwissenschaftlichen Fakultät verlegt, in den auch die Privatschule Faidherbe beherbergt wird. Beschlagnahmt werden alle Arten von Gütern, von Kohle, über Papier bis hin zu Treibstoff. In der Stadt herrscht Mangel an Nahrungsmitteln sowie an Kohle für Heizung.

Am 11. Januar 1916 verschärfte die Explosion eines Munitionslagers in der Nähe des Universitätsviertels die Situation. Die Fenster der Literaturwissenschaftlichen Fakultät sind zerstört, die Türen abgerissen, und Trennwände stürzen ein. Der Boden des Instituts für Kunstgeschichte ist eingestürzt. Andere Gebäude sind betroffen und viele wissenschaftliche Instrumente wurden beschädigt. Im September 1916 verursachen drei Bomben weitere Schäden am Gebäude der Literaturwissenschaftlichen Fakultät.

Im Winter 1916‑17 verschärft sich der Kohlemangel und gefährdet den Betrieb der Universität. Um die Kohlenreserven zu schonen, beschließen die deutschen Behörden im Rahmen einer Rationierungspolitik, Lehreinrichtungen zu schließen. Der Rektor verhandelt jedoch, dass Vorlesungen fortgesetzt werden dürfen, wenn sie in privaten Räumen abgehalten werden, die nicht nur für die Vorlesung beheizt werden. So stellt der Rektor den Fakultäten seine Privatwohnung zur Verfügung. Erst ab April 1917 dürfen die Unterrichtsräume wieder benutzt werden. Das akademische Hotel, in dem der Rektor wohnt, wurde im August 1917 bei einem Bombenangriff zerstört. Während des Krieges beschlagnahmt die deutsche Armee alle metallischen Gegenstände : die Heizplatten der Heizkörper, die Lampen (außer denen der Bibliothek) oder die Waagschalen der Waagen.

Im Jahr 1917‑1918 kommen von der deutschen Armee verhängten Fahrverbote zwischen Lille, Roubaix und Tourcoing hinzu. Es gibt keine Ausnahmeregelungen für akademische Aktivitäten, von denen Professoren und Studenten profitieren könnten. Um die in Tourcoing wohnhaften Studenten nicht zu benachteiligen, wird eine außerordentliche Prüfungssession organisiert. In diesem Rahmen erhalten die Professoren, die diese Prüfungen organisieren, eine außerordentliche Genehmigung, um sich zwischen den beiden Städten fortzubewegen. Die Prüfer berücksichtigen die zusätzlichen Schwierigkeiten, die die Situation für die Studenten bedeutet. Zum Teil waren sie nicht in der Lage, die Vorlesungen zu besuchen und mussten aussschließlich mit den Büchern arbeiten, die sie noch vor den Fahrverboten hatten ausleihen können. Was die Räumlichkeiten betrifft, wird 1918 die Präfektur beschlagnahmt und die Literaturwissenschaftliche Fakultät wird dem Präfekten zur Verfügung gestellt. Das Institut für Mathematik beherbergte dann die Fakultäten für Literatur und Recht, wird aber einige Wochen später ihrerseits beschlagnahmt. Literaturwissenschaftler und Juristen haben dann keine Räumlichkeiten mehr und müssen improvisieren.

Zwangsräumungen und Geiselnahmen

Zwangsräumungen und Geiselnahmen von Zivilisten durch die Deutsche Armee gehören für die Bevölkerung zu den traumatischsten Ereignissen. Auch Lehrer und Studenten sind betroffen.

Die erste Welle von Zwangsräumungen begann im April 1916. Ein Teil der Bevölkerung der Metropole wird in die Ardennen auf das Land evakuiert und zu landwirtschaftlichen Arbeiten gezwungen. Laut der Aussagen der Militärbehörden handelt es sich um eine humanitäre Maßnahme, um die Versorgungsschwierigkeiten der Metropole zu verringern. Fünf Studenten stehen auf den Listen, darunter zwei von der juristischen Fakultät, die Herren Gardez und Jaeghère.

Rektor Georges Lyon, ein ausgebildeter Philosoph, schreibt 1916 einen Protestbrief an den deutschen Bundeskanzler, in dem er diese Entscheidung verurteilt. Er betont dabei, dass sie im Widerspruch zu den Rechtsgrundsätzen der Aufklärungsphilosophie steht. Er ruft zu einer gemeinsamen europäischen Kultur auf, die von den Universitäten getragen wird, doch bleibt dies ohne Erfolg, da die Maßnahme nach Ansicht der Militärbehörden im Interesse der Vertriebenen getroffen wird :

„ Niemand in diesem Deutschland, wo die großen Bildungsgemeinschaften, die den Ehrenvollen Namen Universität tragen, den Willen wie den Intellekt lenken, wird sich darüber wundern, dass die Universität Lille lautstark ihre Stimme erhebt, um, wenn es noch Zeit ist, Maßnahmen zu verhindern, die das ewige Prinzip auf irreparable Weise verletzen, auf das sowohl jenseits als auch diesseits des Rheins alle Verfechter der Bildung und des Geistes sich berufen, […] Es handelt sich um freie Bürger, die durch keine Handlung, durch keinen Verstoß gegen die Regeln des Besatzers diese plötzliche Enteignung ihres habeas corpus verdient haben. […] Aber wir haben es hier mit einer verschärften Härte, die kein Kriegstheoretiker rechtfertigen möchte, und hier erhebt sich das souveräne Prinzip, auf das ich eingangs anspielte : Diese Verschärfung impliziert nichts anderes als die Negation der Unverletzlichkeit der menschlichen Person. […] Diesen Grundsatz hat der größte Ihrer Philosophen auf unvergängliche Seiten verkündet, wie er auch das ganze Werk des größten unserer Moralisten inspiriert hat. Dieses Prinzip haben Sie genauso wie wir von Rousseau und Kant geerbt. Unermüdlich arbeiten wir daran, es in die Herzen von Generationen einzuprägen, die nacheinander auf den Bänken unserer Schulen, unserer Gymnasien, und unserer Universitäten kommen. […] Der Tag, an dem er aus dem menschlichen Bewusstsein verschwinden würde, würde das Ende aller Zivilisation einläuten […] Nun bitte ich Sie, Seine Exzellenz, mit Respekt, ohne Voreingenommenheit, ohne Leidenschaft : ein solches Prinzip, das sicherlich an der Front ihrer Kultur wie auch der unserer steht […] Lassen Sie mich ein letztes Mal die Maxime anführen von dem Philosophen, den unsere Universitäten auf die gleiche Weise verehren wie Ihre, Immanuel Kant : Die menschliche Person muss als Ziel behandelt werden, niemals als Mittel […] “

Am 1. November 1916 werden führende Persönlichkeiten als Geiseln nach Deutschland gebracht. Ziel der Operation ist es, im Rahmen von Verhandlungen über elsässische Kriegsgefangene Druck auf die französischen Behörden auszuüben. Ein Professor der Medizinischen Fakultät gehört zu den Geiseln. Eine weitere Geiselnahme fand im Dezember 1917 statt. Charles Mouchet, Professor für Römisches Recht, wird nach Litauen gebracht.

In den Jahren 1916‑1917 nutzte der Professor Louis Vallas Organisation von freiwilligen Evakuierungen, um Lille zu verlassen und zu seiner Familie zurückzukehren. Er empfiehlt einen Anwalt namens Massart als Nachfolger, der jedoch als Geisel genommen wurde. François Henri Dejamme übernimmt daraufhin alle Zivilrecht-Vorlesungen.

Die Angst vor neuen Wellen von Zwangsevakuierungen wirkt sich auf die Organisation des Universitätslebens aus. Studenten, vor allem junge Männer, die hätten mobilisiert werden können, werden als Hauptziel wahrgenommen, und es wird gefürchtet, dass die Vorlesungen vom Besatzer als Gelegenheit genutzt werden, um viele junge Männer auf einmal zu finden. Die Stundenpläne sind daher nicht öffentlich und die Kurse finden unregelmäßig ohne wiederkehrende Stundenpläne statt. Ohne geheim gehalten zu sein, werden sie in Diskretion organisiert.

Im selben Jahr, 1916‑1917, gibt es 51 Studenten an der juristischen Fakultät : die Zahl der jungen Abiturienten, die nicht mobilisiert werden, nimmt zu. Allerdings können nur Personen, die in Lille, Roubaix oder Tourcoing wohnen, die Vorlesungen besuchen : Der Eintritt in die Metropole ist verboten. Ab Oktober 1916 ist auch der Verkehr zwischen Lille, Roubaix und Tourcoing verboten : Die Studenten dieser beiden Gemeinden können nicht mehr an den Kursen teilnehmen. Eine außerordentliche Examenssitzung wird speziell im Dezember-Januar für die Studenten Garde und Jaeghère organisiert, die im November freigelassen und nach Lille zurückkehren dürfen. Trotz der kurzen Zeit zur Vorbereitung bestehen sie ihre Prüfungen (wohl unterstützt durch das Wohlwollen der Jury).

Im Juni 1917 findet eine neue Welle von Zwangsevakuierungen statt. Der Rektor schafft es, mit der Begründung, dass sie ihre Prüfungen ablegen müssen, einen Aufschub von einigen Wochen für die Studenten auf der Liste zu verhandeln. Für sie wird eine vorgezogene Prüfungssession organisiert. Die Abreise wird zunächst einmal verschoben, und findet schließlich gar nicht statt. Die betroffenen Studenten werden von den deutschen Behörden vergessen.

Im selben Jahr wird, ebenfalls zum Schutz der Studenten, der Vorlesungsbeginn auf den 1. Oktober vorverlegt (an Stelle des 1. Novembers), um im Falle von Forderungen nach Zwangsarbeit mit den Verpflichtungen der Studenten argumentieren zu können. Dieser frühere Anfang ist auch eine Gelegenheit, längere, weniger kalte Tage zu nutzen, um an Kohle für Heizung und an Beleuchtung zu sparen.

In den Jahren 1917‑1918 besuchten 73 Studenten die Vorlesungen der Fakultät. Ab Oktober 1917 sink die Zahl der anwesenden ordentlichen Professoren auf drei und dann auf zwei, als Charles Mouchet im Januar 1918 als Geisel nach Litauen gebracht wird. Paul Collinet übernimmt die gesamten Vorlesungen zum römischen Recht. Die Professoren werden weiterhin von ehrenamtlichen Juristen unterstützt, die einen Teil der Vorlesungen übernehmen. Der Unterinspektor der Registrierung, Herr Viel, übernimmt die Vorlesung zur politischen Ökonomie, der seit 1913‑1914 nicht mehr stattgefunden hatte.

Das Ende der Besatzung

Die deutsche Armee verlässt Lille am 17. Oktober 1918. Die menschlichen und materiellen Schäden sind erheblich. Im Jahresbericht der Fakultät verbirgt Eustache Pilon nicht seine Bitterkeit : „Die entfernten oder zerbrochenen Tische, die unbrauchbaren Beleuchtungs- und Heizgeräte bezeugen, dass die Apostel der Kultur* vor den Tempeln der Wissenschaft keinen Respekt haben.“ “Diese Worte bekräftigen die Spannung innerhalb der akademischen Welt zwischen dem Ideal der europäischen Bruderschaft, die auf einer gemeinsamen gelehrten Kultur beruht, wie sie von Rektor Lyon in seiner Adresse an den Kanzler beschworen oder im Rahmen des akademischen Austauschs in der Vorkriegszeit gelebt wurde, und der Distanzierung vom Feind, von den Barbaren, die durch die aus der Härte der Kämpfe resultierende Wut begünstigt wurde. Sie zeugen auch von der Verbreitung und dem Einfluss des patriotischen Diskurses, der den Feind zum ‚boche‘, zum Barbaren, zum Wilden macht.

Zwar wurden vom Ministerium Mittel bereitgestellt, um die Räumlichkeiten wieder in ihren ursprünglichen Zustand zu versetzen, doch es kam auch zu menschlichen Verlusten. Erhebungen in den Jahren nach dem Konflikt zufolge starben 184 von 1402 Studenten, die 1913‑1914 an der Universität eingeschrieben waren, für Frankreich, was 13  % entspricht (weitaus mehr, wenn man nur die Mobilisierten zählt). Ihnen wurde am 17. Januar 1921 eine Ehrenzeremonie gewidmet, in der die französisch-belgische Freundschaft geehrt wurde. Paul-Emile Janson, Rechtsanwalt und Kriegsminister Belgiens, wurde zum Ehrendoktor ernannt.

Der Dekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät wollte den Schaden für seine Gemeinschaft abschätzen und startete eine Umfrage unter den Familien der 1913‑1914 eingeschriebenen Studenten. Obwohl die Anzahl der Antworten (200 von 351) angesichts der Umstände, dass viele Familien umgezogen oder nicht zurückgekehrt waren, nicht unerheblich war, schätzte Eustache Pilon den Anteil der für Frankreich gefallenen Studenten auf 40  %, während die oben erwähnten Schätzungen für die gesamte Universität eher von 13  % ausgingen. Eine höhere Antwortquote bei den trauernden Familien könnte eine Erklärung dafür sein. Zwei Professoren starben in der Armee : Louis Boulard, von dem der Dekan “die absolute Hingabe, die er bei jeder Gelegenheit in den Dienst der Studenten stellte bis hin zum Lateinunterricht für die, die es nicht verstanden”, hervorhob, sowie Edgard Depitre.

In seinem Jahresbericht würdigt der Dekan die verstorbenen Studenten und erklärt, dass ihr Einsatz im Krieg als Einsatz für den Sieg des Rechts zu sehen sei, und verweist damit auf die rechtliche Dimension des Konflikts, in der sich die Juristen engagierten, und auf deren Umsetzung in der Kriegspropaganda :

„ Sie waren zu uns gekommen, um das Recht zu lernen. Und mit einem Mal wurden sie zu Meistern ; sie erteilten der Welt die große Lektion des Rechts, indem sie ihr Leben für die Sache des Rechts opferten […] “

„ Während die Anhänger der Theorie des “Vertrags-Papierfetzen” einen Teil der Fakultät militärisch besetzten, erhoben sich neben ihnen die Stimmen unserer Professoren, um unseren Studenten zu vermitteln, dass nach französischem Recht der Vertrag das Gesetz der Vertragsparteien ist und dass er seinem Wortlaut und seinem Sinn nach erfüllt werden muss. “

Im Oktober 1918 sind noch vier Professoren mobilisiert. Vier weitere sind nun an der Pariser Universität tätig : Einer hatte 1914 seine Versetzung erhalten, zwei anderen wurden der Fakultät von Paris zugeteilt, nachdem sie dort während der vier Kriegsjahre gelehrt hatten (sie hatten nach Lille nicht zurückkehren können) und Paul Collinet wurde 1918 nach Paris versetzt. Die Fakultät hat nur noch fünf Professoren (die drei, die am Ende der Besetzung verblieben, zwei Demobilisierten sowie zwei Dozenten).

Im Jahr 1918 betrug die Zahl der Studenten der juristischen Fakultät auf 105. Zahlreiche junge Männer sind noch mobilisiert, und die Fortbewegung, wenn auch erlaubt, ist immer noch gestört, was der Besuch der Universität für Nicht-Bewohner der Metropole nicht einfach macht. Es braucht Zeit, bis die Fakultät ihr Vorkriegsniveau wiedererlangt : Im Jahr 1919‑1920 sind nur 249 Studenten eingeschrieben, im Vergleich zu 351 im Jahr 1913‑1914.

Was die Forschung angeht finden im Jahr 1917‑1918 zwei Verteidigungen von Doktorarbeiten statt, was seit Beginn des Krieges nicht mehr passiert war. Félix Crémont verteidigte am 14. Juni 1918 eine Dissertation mit dem Titel „La Réforme du contentieux pénal des régies financières“ (Die Reform des Strafrechts der Finanzverwaltungen), während Herr Mercier am 21. Oktober eine Dissertation über das Berufsrisiko und die Landwirtschaft (nicht in der Sudoc-Datenbank vorhanden) verfasste. In den Jahren 1918‑1919 werden fünf Doktorarbeiten verteidigt, darunter eine Arbeit von Henri Thellier mit dem Titel „La succession du mobilisé décédé ab intestat“ (Die Nachfolge des verstorbenen Mobilisierten ab intestat). Professoren nehmen ihre Forschungsarbeiten wieder auf. André Morel veröffentlicht 1918 eine Studie mit dem Titel „Die Lieferaufträge der Kriegs- und Marineabteilungen während der Feindseligkeiten“, während Albert Aftalion über die Handelspolitik Frankreichs während des Krieges (1919) sowie über die Textilindustrie in Frankreich während des Krieges (1924) veröffentlicht.

Fazit

Während der Besatzung hat die Universität von Lille in völliger Autonomie und ohne Einmischen der deutschen Behörden in die Organisation der Studiengänge weiter funktioniert, worauf Alphonse Malaquin in seinem Bericht von 1916 vehement hinweist :

„ Unsere Universität ist keiner Kontrolle unterworfen, und zu der Zeit, wo diese Zeilen geschrieben werden, muss betont werden, dass sie die fremde Einmischung weder in ihren moralischen und intellektuellen Angelegenheiten noch in die Unabhängigkeit als große wissenschaftlichen Einrichtung zu dulden bereit ist. “

Die Besetzung, die Nöte und die Zerstörungen, die diese mit sich brachte, machen die Lage Universität Lille während des Ersten Weltkriegs sehr besonders. Die verbliebenen Mitarbeiter zeichnen sich jedoch durch ihr Engagement aus, um die Institution trotz der Schwierigkeiten in Betrieb zu halten : Isolierung vom Rest Frankreichs, Beschlagnahme oder Zerstörung der Räumlichkeiten, der allgemeine Gütermangel, der die Bevölkerung trifft, Angst vor Bombardierungen, Zwangsevakuierungen und Geiselnahmen, Einschränkungen der Fortbewegungsfreiheit, usw.

Die Geschehnisse, die in den Berichten geschildert sind, die während und nach dem Konflikt verfasst wurden, zeigen das Fortbestehen einer echten Universitätsgemeinschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in die auch die Studenten einbezogen wurden. In der Tat bemühen sich die Professoren nach Möglichkeit, es den Studenten zu ermöglichen, ihr Studium fortzusetzen und sie vor erzwungenen Evakuierungen zu schützen, wofür manchmal Klausuren mehrfach organisiert werden, manchmal nur für eine Handvoll Studenten. Besonders hervorzuheben sind die Rolle und die herausragende Persönlichkeit des Rektors Georges Lyon, der auch den Vorsitz der Universität innehatte.

Der Große Krieg und das daraus entstandene Leiden erschüttern auch die Akademiker und untergraben das Ideal einer gemeinsamen europäischen Kultur, die von der Aufklärung geerbt worden war, sowie die Praxis des akademischen Austausches. Bereits vor dem Krieg bestanden Spannungen zwischen einerseits einer Zunahme der internationalen wissenschaftlichen Beziehungen und andererseits einer Subsumierung der wissenschaftlichen Forschung im Dienst eines Wettbewerbs unter den Nationen. Nach 1919 wird die Idee des Friedens im intellektuellen Austausch zu einem grundlegenden Begriff als Mittel zur Überwindung dieser Widersprüche.

Geoffrey Haraux, Referent für digitale Bibliotheken und CollEx, Gemeinsamer Dokumentationsdienst der Universität Lille

*Deutsch im Original


Literaturangaben

Annales de l’Université de Lille 1914-1919 : Rapports annuels du Conseil de l’Université. Compte rendu de MM. les Doyens des Facultés, Imprimerie-Librairie O. Marquant, Lille, France, 1925.

Annales de l’Université de Lille 1919-1920 : Rapports annuels du Conseil de l’Université.Compte rendu de MM. les Doyens des Facultés, Imprimerie-Librairie O. Marquant, Lille, France, 1921.

Aubry Martine, Matthias Meirlaen, Élise Julien, Helin Corinne, Condette Jean-François, Westeel Isabelle (dir.), Octobre 14. L’université commémore la Grande Guerre, 2014.

Condette Jean-François, « L’université de Lille dans la première guerre mondiale 1914-1918 », dans Guerres mondiales et conflits contemporains, no 197, 2000, p. 83-102.

—, « Étudier et enseigner dans les facultés et les lycées lillois sous l’occupation allemande (1914-1918) », dans Revue du Nord, vol. 404‑405, no 1, 2014, p. 207‑239.

Condette Jean-François (dir.), La guerre des cartables, 1914-1918 : élèves, étudiants et enseignants dans la Grande Guerre en Nord-Pas-de-Calais, Villeneuve-d’Ascq, France, Presses universitaires du Septentrion, 2018.

Lyon Georges, Souvenirs de guerre du recteur Georges Lyon (1914-1918), Villeneuve d’Ascq, France, Presses universitaires du Septentrion, 2016.