1915 reist die Weltausstellung vom Alten Kontinent in die Vereinigten Staaten ; es ist keine Premiere, da Philadelphia, Chicago und St. Louis diese Veranstaltung bereits zuvor veranstaltet hatten. Nach dem schrecklichen Erdbeben von 1906 wird die Stadt San Francisco ausgewählt, um die Aussteller aus den vierundzwanzig teilnehmenden Ländern zu empfangen ; zwischen März und Dezember 1915 empfängt sie etwa neunzehn Millionen Besucher.
Wie üblich ist die Ausstellung um ein Hauptthema herum aufgebaut. Dieses Mal steht der Panamakanal im Mittelpunkt, der ein Jahr zuvor fertiggestellt und eingeweiht worden war : aus diesem Anlass wird die Ausstellung in „Panama-Pacific“ umbenannt. Der Kanal, dessen gigantische Bauarbeiten 1882 begonnen hatten, ermöglichte eine beispiellose Ausweitung des Seehandels und trug zur starken Entwicklung der amerikanischen Pazifikküste bei.
Trotz der Zollstreitigkeiten zwischen Frankreich und den Vereinigten Staaten nimmt die französische Regierung im Jahr 1912 die Einladung der amerikanischen Botschaft an, um an die Teilnahme der Vereinigten Staaten an der Pariser Weltausstellung von 1889 zu erinnern.
1915 ändert sich jedoch der nationale und internationale Kontext dramatisch. Seit dem Sommer 1914 befindet sich Frankreich im Krieg. Als die Ausstellung beginnt bricht ganz Europa auseinander. Frankreich erwartet in San Francisco mehr als nur Prestige und Absatzmärkte für seine Industrie. Es geht um das Image des Landes, um seine Legitimität und um die Stärkung von diplomatischen Beziehungen, indem es „seine Sache“ exportiert, die es als universell versteht : die Wissenschaft, die Kultur und die Zivilisation.
Zu diesem Zweck lässt die französische Regierung in den von ihren Ausstellern belegten Pavillons Kunstwerke, aber auch zahlreiche alte und zeitgenössische Bücher ausstellen, die von der Exzellenz und Vitalität der französischen Wissenschaft zeugen sollen. Um den Besuchern die Möglichkeit zu geben, den Umfang dieser für den Laien nicht immer leicht verständlichen Werke zu erfassen, wurde beschlossen, diese Sammlungen mit Begleitheften zu versehen, die einen Überblick über die wissenschaftliche Produktion Frankreichs seit der Neuzeit geben. Jede Broschüre ist einer wissenschaftlichen Disziplin gewidmet, zieht eine langfristige Bilanz und hebt den Beitrag des französischen Denkens und seiner Gelehrten zur weltweiten Entwicklung der Wissenschaft hervor.
Für Frankreich ist es daher von strategischer Bedeutung, die Verdienste – um nicht zu sagen die Eminenz – seiner „Wissenschaft“ zu rühmen. Tatsächlich verliert die französische Wissenschaft seit dem Ende des 19. Jahrhunderts an Einfluss, insbesondere aus angelsächsischer Sicht. Es ist die deutsche Wissenschaft und das deutsche Denken, die von nun an Interesse und Bewunderung hervorrufen. Selbst die Franzosen haben nach dem Trauma der Niederlage von Sedan, in der Überzeugung dass Deutschland aufgrund seiner überlegenen Wissenschaft gewonnen habe, begonnen, ihre wissenschaftlichen Institutionen, Disziplinen und Universitäten umzustrukturieren. Daher, muss Frankreich, wenn es heute im universellen Interesse des zivilisatorischen Geistes handelt, seine wissenschaftliche Führungsrolle gegenüber dem „preußischen Deutschland“, seinem Feind, behaupten, den es als brutal und wild darstellt. Um das „Lager des Rechts“, die „zivilisierte Welt“, um sich zu versammeln, will Frankreich in San Francisco zeigen, dass es auf eine lange wissenschaftliche Geschichte stolz sein kann und dass seine zeitgenössischen Denker immer noch an der Spitze der Wissenschaft stehen.
Diese Notizen aus San Francisco werden im Auftrag des Erziehungsministeriums in einem einzigen Buch zusammengefasst und veröffentlicht. Der Beweis für die politische Dimension des Projekts zeigt sich darin, dass Lucien Poincaré, Physiker und Direktor des Hochschulwesens, das Vorwort verfasst. Das Buch, das vom Verlag Larousse unter dem Titel La Science française (1915, 2 Bde., 397 und 403 S.) veröffentlicht wird, ist sowohl eine Synthesearbeit als auch eine populärwissenschaftliche und propagandistische Arbeit. Mit dieser Publikation verstärkt der Verlag Larousse sein Engagement in der Kriegsliteratur, indem er patriotische und antideutsche Publikationen wie Henri Clouards im selben Jahr erschienenes Buch „Les Allemands par eux-mêmes“ (Die Deutschen von ihnen aus gesehen) veröffentlicht. Das Buch „La Science française“ (Die französische Wissenschaft) besteht aus 53 Kapiteln von ungleicher Bedeutung, die jeweils einer bestimmten Wissenschaft gewidmet sind und von einem anerkannten Spezialisten der jeweiligen Disziplin verfasst wurden. So wurde beispielweise das Kapitel über die Soziologie von Emile Durkheim geschrieben, während das Kapitel über Philosophie von Henri Bergson verfasst wurde.
Für die Politik- und Rechtswissenschaften zeichnet der Dekan der Pariser Rechtsfakultät, Ferdinand Larnaude verantwortlich. Einen Überblick über das französische Recht von Jacques Cujas bis heute auf weniger als 100 Seiten zu bringen, ohne dabei die Verzweigungen dieser Geschichte zu vernachlässigen, ist eine gewaltige Herausforderung, insbesondere für einen Akademiker, der es gewohnt ist, für seine Kollegen zu schreiben, und nicht für den Laien.
Das von Larnaude geleitete Popularisierungswerk brachte zwar Vereinfachungen und Auslassungen mit sich, war aber dennoch ein Erfolg : Der Pariser Dekan verstand es, in zusammenfassender, klarer und pädagogischer Weise ein glorreiches Gesamtbild der französischen Rechtslehre und ihrer Beiträge zur Rechtswissenschaft zu schaffen. Der erste Teil des Buches widmet sich dem politischen, rechtlichen und intellektuellen Bruch der Französischen Revolution („Le droit et la science politique avant 1789“ – „Le droit écrit et la codification“ – „Le droit et la science politique depuis 1789“). Der weitere, thematischere Teil geht auf die verschiedenen Zweige des Rechts ein ; Larnaude stellt schließlich ohne Ordnung und Logik alle Fächer vor, die nicht in die vorhergehenden Kategorien fallen, wie das Rechtsverfahren oder die Rechtsgeschichte, und schließt seine Darstellung mit einem Überblick über „Repertoires, Sammlungen, juristische Zeitungen, juristische Gesellschaften, Arbeiten von Universitäten und Fakultäten“. Eine Zusammenfassung und eine Bibliographie schließen die 75 Seiten des Kapitels ab.
Allerdings ist das von Larnaude aufgestellte Bild der französischen Rechtswissenschaft glorreich bis zum Überdruss. Das Werk kann natürlich nicht vom Kontext seiner Veröffentlichung getrennt werden. Wie die Doktrin in den juristischen Zeitschriften der damaligen Zeit schreibt Larnaude hier mehr im Dienste des bewaffneten Vaterlandes als der Wissenschaft, wobei ihn der Propagandageist häufig zu wissenschaftlichen und historischen Fehlern verleitet.
So zögert der Autor nicht, die französischen Juristen als die Hauptträger der Flamme von Themis darzustellen, die die zivilisierten Nationen immer noch erleuchten, wobei er sorgfältig die Beiträge des deutschen Denkens und die zweideutigen Beziehungen, die die französische Doktrin im Laufe des 19. Jahrhunderts mit den Juristen jenseits des Rheins gepflegt hat, nicht erwähnt. Abgesehen vom vergangenen Ruhm, betont der Autor auch die „Erneuerung“ der französischen Rechtswissenschaft seit den 1880er Jahren : die Generation, der er angehört, hätte ihm zufolge die Ansätze des Rechts erneuert und dem französischen Rechtsdenken seine zu Unrecht umstrittenen Adelsbriefe zurückgegeben.
Die Legitimierung des „Rechtslagers“ : Frankreich als Mutter der Gesetze und Erleuchter der „zivilisierten Nationen“
Larnaude zitiert in seinem Text ausgiebig direkt und indirekt die ersten Verse des berühmten Sonetts von Joachim du Bellay : „Frankreich, Mutter der Künste, der Waffen und der Gesetze“. Tatsächlich zeichnet der Dekan ein so glänzendes und exklusives Bild des französischen Rechtsdenkens, dass die ganze Welt ihm gegenüber zu einer ewigen Zivilisationsschuld gegenüber das Land der Aufklärung verurteilt scheint. Eine solche Polemik ist keineswegs die erste ihrer Art. Sie überrascht dennoch in einer Arbeit, die sich als „wissenschaftlich“ versteht, zumal Larnaude sich oft unangenehme Freiheiten im Umgang mit der Geschichte herausnimmt.
Bei der Annäherung an die alte Lehre begeht der Dekan bedeutsame Verkürzungen oder Versehen. Wenn zum Beispiel die Commentarii juris civilis von Doneau in Europa „großen Einfluß ausgeübt haben, wie der Verfasser schreibt, so sagt dieser doch kein Wort über die erzwungene Abreise dieses calvinistischen Juristen nach Deutschland, wo er Zuflucht fand, wo er den Rest seines Lebens als Professor arbeitete und wo seine Lehre viel erfolgreicher wurde als in Frankreich. Das Gleiche gilt für Montesquieu : Larnaude stellt den Geist der Gesetze als ein Hauptwerk der Politikwissenschaft dar, das die größten modernen Verfassungen inspiriert, und vergisst zu erwähnen, dass der Philosoph aus Bordeaux durchaus Bewunderung für das englische Modell hatte. Was Jean-Jacques Rousseau und Grotius betrifft, so macht sie Larnaude sie sehr zu Franzosen, der erste wegen seines „Besuchs der literarischen Kreisen von Paris“, die „seine Lehren stark beeinflussten“, der zweite aufgrund seiner burgundischen Familienwurzeln, und weil er sein Werk De jure belli ac pacis, das er Ludwig XIII. widmete, in Paris niederschrieb.
Der Code civil (das französische bürgerliche Gesetzbuch), das 1904 mit großem Prunk anlässlich seines hundertjährigen Bestehens gefeiert wurde, bleibt 1915 ein Denkmal des Stolzes, auch wenn immer mehr Stimmen eine weitreichende Überarbeitung des Werkes fordern, da das deutsche BGB den ehrwürdigen Kodex von Portalis ernsthaft gealtert hat.
Auch hier schreibt Larnaude, dass sich die Rationalität des „französischen Rechtsgeistes“ schon sehr früh in den großen Verordnungen von Colbert und d’Aguesseau manifestierte ; aber er sagt nichts über die viel systematischeren und moderneren Rechtskodifikationen, die im 18. Jahrhundert in vielen Ländern Mittel- und Nordeuropas eingeführt wurden. Da er die Frage des preußischen Kodex von 1794 nicht ausweichen kann, unterstreicht der Dekan vor allem dessen anekdotische Schicksal angesichts des europäischen Triumphes der französischen Code civil. „Die napoleonischen Gesetzbücher“, schreibt Larnaude „entsprachen besser den allgemeinen Bestrebungen der Völker, die sie angenommen haben“, denn „die Form war so vollkommen, die Sprache so klar, dass diese Kodifikationen sich sehr leicht, sei es durch direkte Transplantation oder durch Infiltration, an die Sitten dieser Völker anpassen konnten. Indem Frankreich für sich selbst Gesetze machte, fand sich das Land als Gesetzgeber für diese Völker wieder.“
Auch wenn es nicht darum geht, die Qualitäten der napoleonischen Kodifizierung und insbesondere des Code civil in Frage zu stellen, muss das Argument des französischen Rechtsgenies, das schnell auf die Bedürfnisse der Völker der Welt „durch das Universelle“ reagiert, differenziert werden : Die Bajonette und die Unterwerfung Europas unter Napoleon spielten auch eine nicht zu unterschätzende Rolle bei der Verbreitung des französischen Rechts im 19. Jahrhundert.
Übrigens verliert Larnaude kein Wort über den „Kodexstreit“ von 1814 und die darauf folgende fast hundertjährige Ablehnung jeder Idee einer Kodifizierung des nationalen Rechts zugunsten des Savignéeschen Professorenrechts durch das von der französischen Besatzung befreite Deutschland. Dieser „andere Weg“ faszinierte jedoch einen Teil der französischen Doktrin, die, müde von den legalistischen und engen Kommentaren des Kodex, die Dynamik und die wissenschaftliche Freiheit der Deutschen beneidete. Die Arbeiten der deutschen Historischen Rechtsschule wurden sehr früh in der Thémis d’Athanase Jourdan (1819‑1831), einer französischen juristischen Zeitschrift, rezensiert, deren Hauptautoren wegen ihres anhaltenden Interesses an der Wissenschaft jenseits des Rheins als „Gallophobe“ kritisiert wurden.
Wenn Larnaude zu Recht behauptet, dass die Japaner hätten sich bei der Suche nach einem Rechtsmodell frei in Frankreich umgesehen, so verschweigt er doch das japanische Zivilgesetzbuch von 1896 ebenso viel – wenn nicht sogar mehr – vom deutschen Recht inspiriert ist. Was das Kolonialrecht betrifft, das der Kolonisator diesmal den indigenen Völkern aufgezwungen hat, spricht der Dekan wenig darüber, außer um die Modernität des marokkanischen Gesetzbuches von 1913 zu loben. Das Beispiel des marokkanischen Protektorats wird natürlich nicht zufällig gewählt. Dieser ist seit Beginn des 20. Jahrhunderts Gegenstand heftiger Rivalitäten zwischen Frankreich und dem deutschen Reich.
Schließlich wird der deutsche Feind immer dann direkt ins Visier genommen, wenn der Autor als Beispiel oder zur Unterstützung die rechtlichen und politischen Systeme der „freien Völker“, d.h. der mit Frankreich verbündeten liberalen Demokratien, zitiert. Wie in den juristischen Zeitschriften stehen die angelsächsischen Systeme im Rampenlicht, und Larnaude versäumt es nicht, die Vermächtnisse und Verwandtschaft hervorzuheben, die sie mit dem französischen Recht verbinden.
Mit dem Ausschluss Deutschlands aus dem Rechtsbereich vernachlässigt der Autor natürlich die Beiträge – und manchmal die Vorleistungen – der deutschen Gesetzgebung zum französischen Recht, insbesondere im Bereich des Sozialschutzes und des Arbeitsrechts. Wie die Doktrin seiner Zeit tut er so, als vergesse er, dass die Blicke der französischen Juristen vor dem Ersten Weltkrieg weitgehend auf Deutschland gerichtet waren. So verfasst Larnaude zum Beispiel einen sehr interessanten Absatz über die Arbeit der Société de législation comparée (Gesellschaft für vergleichende Gesetzgebung) und des Comité de législation étrangère (Ausschusses für ausländische Gesetzgebung) ; er versäumt jedoch zu erwähnen, dass es die Ausarbeitung und Verkündung des BGB in Deutschland war, die das Interesse an vergleichenden Studien in Frankreich am Ende des 19. Jahrhunderts beschleunigte.
Gewiß verdient die französische Rechtswissenschaft viel Lob, und Frankreich kann mit Recht auf seine Gesetze und seine Juristen stolz sein. Der Text von Larnaude beseitigt jedoch stets die historischen Unebenheiten durch mehr oder weniger subtiles Umgehen oder durch Auslassungen ; indem er die (vor allem deutschen) ausländischen Einflüsse und Bereicherungen im Aufbau der französischen Wissenschaft und des französischen Rechts quasi systematisch verschleiert. Indem er Frankreich zur Fackel der universellen Gesetze macht, ist die Betätigung des Dekans mehr auf die Seite des Kampfs und der Propaganda als auf die der Wissenschaft zu verorten.
Als „Mutter der Gesetze“ verkörpert das von Larnaude dargestellte juristische Frankreich in den Augen der Welt das Lager des Rechts und der Zivilisation angesichts der teutonischen Gewalt. Vor allem ist diese Leadership auf dem Feld des Rechts nicht nur eine Erinnerung an vergangene Zeiten : Die französische Rechtswissenschaft, die manchmal als im Niedergang begriffen dargestellt wird, ist nach Larnaude zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Gegenteil so erfolgreich wie nie zuvor.
Eine Wissenschaft an der Spitze des Fortschritts : die „Erneuerung“ des französischen Rechtsdenkens
Das Werk von Larnaude fügt sich voll und ganz in den Kontext des Ersten Weltkriegs ein, aber auch in den Kontext der „wissenschaftlichen Erneuerung“ des Rechts in der Jahrhundertwende. Dieser Moment ist in erkenntnistheoretischen als auch in akademischer Hinsicht entscheidend : Die Rechtwissenschaft, die von der neuen Sozialwissenschaften gewissermaßen in die Enge getrieben wird, erneuert ihre Methoden und die Definition der Disziplin
Die Krise spielt sich zunächst auf dem Gebiet des Zivilrechts ab : Das Bürgerliche Gesetzbuch ist in der Tat zum Symbol – wenn nicht gar Instrument – des Konservatismus geworden. Die Doktrin bleibt in einem Korpus gefangen, der unendliche Male kommentiert wurde, und es gelingt ihr nicht mehr, auf die neuen sozialen und wirtschaftlichen Herausforderungen zu reagieren, die durch die industrielle Revolution entstehen. Die Rechtswissenschaft weckt auch nicht mehr das Interesse der Studierenden. Um mit Soziologie, Politikwissenschaft und Ökonomie zu konkurrieren, führen die juristischen Fakultäten dann offiziell neue Disziplinen sowie einige Wahlfächer ein. Larnaude beschreibt dieses „Wachstum“ und diese „Verzweigungen“ der Rechtslehre wie folgt sehr treffend : „Einerseits sind neue Ausbildungen, die aus einer neuen wirtschaftlichen (industriellen und kommerziellen) Entwicklung hervorgegangen sind, zu den alten Ausbildungen hinzugekommen. Zu diesen neuen Zweigen der Organisation und der Rechtswissenschaft gehören das Industrie- und das internationale Privatrecht. Andererseits haben sich auch die alten Disziplinen bisweilen verzweigt und gespalten“, wie die Strafvollzugswissenschaft, die nun vom Stamm des Strafrechts losgelöst ist. Schließlich betont Larnaude „die Vorherrschaft, die das Vergleich zwischen Gesetzen und Theorien der Autoren der verschiedenen Länder in unserer Zeit einnimmt“.
Über die neuen Disziplinen hinaus beginnt die Doktrin einer umfassenden methodologischen und epistemologischen Reflexion, um der „Dekadenz“ der juristischen Studien entgegenzuwirken ; Claude Bufnoir, Raymond Saleilles, François Gény, Edouard Lambert, Adhémar Esmein, Louis Josserand oder René Demogue sind von einer „regenerativen“ Mission beseelt und bringen eine inhaltliche Reflexion über die Rechtswissenschaft hervor. Im Gegensatz zur alten „Schule der Kommentatoren“ oder „Schule der Exegese“, die gleichzeitig von Julien Bonnecase und Eugène Gaudemet vertreten wurde, beriefen sich die jungen Akademiker der Belle Époque nun auf eine neue „wissenschaftliche Schule“. Die Zeit der Glossen und der Abstraktion ist vorbei. An ihre Stelle tritt die „Wissenschaft der Beobachtung“, denn das Recht ist ein „lebendiger Gegenstand“ in „ewiger Entwicklung“. Mit den Methoden der Geschichts-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften haben sich die Rechtsprofessoren die Aufgabe gestellt, die Rechtsphänomene in ihrer ganzen Komplexität zu antizipieren und zu ordnen.
Das Recht steht damit wieder an erster Stelle der Wissenschaften, und der Jurist wird wieder zum „Spezialisten des Sozialen“, der er traditionell war. Larnaude lässt es sich nicht nehmen, diese „wissenschaftliche Revolution“ des Rechts und der Lehre in seinem Werk zu verkünden.
So verteidigt der Dekan die wichtige Rolle, die die Doktrin bei der Ausarbeitung des Rechts spielt. Ihm zufolge ist es die Doktrin, „das heißt die Schriften der Juristen und Publizisten“ und vor allem „die Lehre der Professoren an den Universitäten“, die den zukünftigen Praktikern des Rechts und dem Gesetzgeber von morgen „die rechtliche Orientierung gibt, der sie später folgen werden“. Die Doktrin formt den Geist und ermöglicht die Kohärenz, die Entwicklung und die Vervollkommnung der zahlreichen „gerichtlichen, legislativen und mündlichen Äußerungen der juristischen und politischen Ausarbeitung“ durch eine „freie und selbstlose“ Kritik. Sie kommt damit, zumindest virtuell, zum ersten Platz unter den Rechtsquellen.
Wie andere Akademiker seiner Zeit zeichnet Larnaude hier das Bild einer Doktrin, die zur Wissenschaft wiedergefunden hat und den Fortschritt wieder aufgenommen hat. Wenn auch die kühnsten Ideen und Programme der „wissenschaftlichen Schule“ nach dem Ersten Weltkrieg nicht oder zu wenig verfolgt wurden, so ist Larnaude doch Teil einer starken Dynamik der Doktrin seiner Zeit.
Der Dekan erinnert vor allem daran, dass die französische Rechtswissenschaft, weit davon entfernt ist, unbedeutend zu werden, ihre verlorene Eminenz durchaus wiedererlangt hat ; Frankreich sei daher völlig legitimiert, an der Spitze der Nationen zu stehen, die dem „Lager des Rechts“ angehörten.
Der Verfasser schließt jedoch seine patriotische – oder sogar propagandistische – Äußerungen mit einem Aufruf zur Zusammenarbeit und zur Ablehnung jeder, auch intellektuellen, Hegemonie, die in Verhältnis mit dem Rest des Buches fast dissonant klingt : „Wir wollen jedem, den kleinen wie den großen Völkern, Gerechtigkeit widerfahren lassen. Ob dieses oder jenes Volk durch seine Gesetzgebung, diese oder jene Nationalität durch seine Denker, denen die Menschheit für ihre Fortschritte schuldig ist, wir freuen uns darüber, auch wenn dieses Volk, diese Nationalität nicht Frankreich ist. Eine intellektuelle oder moralische Hegemonie wäre ebenso verabscheuungswürdig wie eine materielle Hegemonie in der Einheit der Nationen, die frei bleiben muss, um fruchtbar zu sein.“ Wenn Frankreich den ersten Platz in der Rechtswissenschaft einnimmt, kann es die anderen Nationen nicht mit seiner Pracht vernichten. Machen wir uns nichts vor : Unter scheinbarem Wohlwollen ist diese Schlussfolgerung nur ein letzter Pfeil, der Deutschland und seinem (vermeintlichen) Wunsch nach „Herrschaft“ abwürgen soll.
Pierre-Nicolas Barenot, Lehrbeauftragter für Rechtsgeschichte (Universität Jean-Monnet – Saint-Étienne)
Literaturangaben
Barenot Pierre-Nicolas, « Compte rendu : ‘Ferdinand Larnaude, Les sciences juridiques et politiques’, La Science française, Larousse, 1915 », dans Revue trimestrielle de droit civil, no à paraître, 2018.
Chambost Anne-Sophie, Gottely Alexandra, « Guerre du droit, droit de la guerre. La faculté de droit de Paris, observatoire de l’enseignement supérieur en guerre », dans Revue d’histoire des sciences humaines, no 33 , 2018.
Hakim Nader, Melleray Fabrice (dir.), Le renouveau de la doctrine française : les grands auteurs de la pensée juridique au tournant du xxe siècle, Paris, France, Dalloz, 2009.
Halphen Louis, « Exposition universelle et internationale de San Francisco. La science française », dans Revue historique, no 122 fasc. 1, 1916, p. 137‑141.
Larnaude Ferdinand, Les sciences juridiques et politiques, « La science française », Paris, France, Larousse, 1915.
Mollier Jean-Yves,Dubot Bruno, Histoire de la Librairie Larousse, 1852-2010, Paris, France, Fayard, 2012.
Nouailhat Yves-Henri, France et États-Unis : août 1914-avril 1917, « Publications de la Sorbonne », Paris, France, Institut d’histoire des relations internationales contemporaines, 1979.